Notfallpatient Gesundheitsdienst

Die staatlich finanzierte britische Krankenversorgung ist in einer tiefen Krise

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Grenze seiner Belastbarkeit hat der britische nationale Gesundheitsdienst NHS in den vergangenen Wochen überschritten. Knapp ein Drittel der Krankenhäuser in England hat warnte, dass dringende Maßnahmen notwendig seien, um die unerwartet hohe Zahl an Patienten zu bewältigen. Die Notaufnahmen waren im Dezember so überlastet, dass 143 Patienten an eine andere Klinik verwiesen werden mussten, weil es an Platz und Personal mangelte - ein Anstieg von 63 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In der Notaufnahme des Worcestershire Royal Hospital starben Anfang des Jahres zwei Patienten, von denen einer 35 Stunden lang auf ein Spitalbett gewartet hatte.

Der Gesundheitsdienst ist auf einem Tiefpunkt angelangt: Krankenwagen treffen mit großer Verspätung ein, Patienten warten stundenlang auf Behandlung, Kliniken verfügen nicht über ausreichend Betten, und das Gesundheitspersonal ist völlig überarbeitet.

Das Britische Rote Kreuz musste sogar einspringen und den NHS unter Einsatz von freiwilligen Helfern beim Patiententransport unterstützen. Mike Adamson, Direktor des Roten Kreuzes, sprach von einer »humanitären Krise«, die über das britische Gesundheitssystem hereingebrochen sei.

In den Wintermonaten sind die Gesundheitsdienste routinemäßig ausgelastet, aber der derzeitige Notstand hat tiefere Gründe. Der Royal College of Physicians, der britische Berufsverband der Ärzte, veröffentlichte im Herbst eine Studie, in dem er die chronische Unterfinanzierung des NHS beklagt: Die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen wächst jedes Jahr um vier Prozent, aber in den kommenden drei Jahren wird das Budget jährlich um gerademal 0,2 Prozent steigen, wenn man die Inflation einrechnet.

Die geplanten Einsparungen von 22 Milliarden Pfund bis 2020/21 sind laut der Studie kaum realisierbar. Dabei ist der steuerfinanzierte NHS kostengünstiger als die Gesundheitssysteme vieler anderer OECD-Staaten: Laut jüngsten Zahlen fließt rund neun Prozent der britischen Wirtschaftsleistung in die Gesundheitsversorgung - deutlich weniger als in Deutschland, Frankreich oder Schweden. Gesundheitsminister Jeremy Hunt wiederholt zwar gern, dass er dem NHS zusätzliche zehn Milliarden Pfund versprochen hat, aber der Gesundheitsausschuss des Parlaments hält diese Zahl für irreführend: Preisbereinigt belaufe sich die zusätzliche Summe auf maximal sechs Milliarden.

Die Regierung versucht derweil, das Problem herunterzuspielen. Von einer humanitären Krise könne keine Rede sein, meinte Minister Hunt am Montag, und die Krankenhäuser stünden heute besser da als letztes Jahr. Damit widerspricht er praktisch allen Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes, die die derzeitigen Engpässe für beispiellos halten.

Taj Hassan, Präsident des Royal College of Emergency Medicine, sagte, dass die Notfalldienste bei Wintereinbruch so schlecht vorbereitet waren wie noch nie zuvor. Mark Porter von der Ärzteorganisation British Medical Association warf der Premierministerin Theresa May vor, den Ernst der Lage zu verkennen. Die Weigerung der Regierung, das Loch in den NHS-Finanzen zu stopfen, stelle Verrat an der Bevölkerung dar, die angesichts einer unsicheren Zukunft immer besorgter sei, meinte Porter. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte die Regierung auf, das dringend benötigte Geld für den NHS so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen. »Gesundheitsversorgung ist in diesem Land ein Menschenrecht - dafür ist der NHS da«, sagte Corbyn.

Das NHS hatte auch in der Pro-Brexit-Kampagne eine Rolle gespielt. Protagonisten des Leave-Lagers wie Nigel Farage hatten versprochen, dass im Falle des Brexits 350 Millionen Pfund statt nach Brüssel wöchentlich in den Gesundheitsdienst fließen. Nach dem Votum im vergangenen Juni hatte sich der Ex-UKIP-Vorsitzende von dieser Aussage distanziert.

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