Verspielter Rechenmeister

Wie ein ostfriesischer Mathematiker mit Arler Erde Heimatkunde erdet. Von René Gralla

  • René Gralla
  • Lesedauer: 4 Min.

Von Leuten, die aus freien Stücken universitäre Weihen in der Zahlenkunde anstreben, wird im Regelfall eine knockentrockene Karriereplanung erwartet. Uwe Rosenberg ist »Mathematiker durch und durch«, wie er sagt, und hat sein Statistikstudium mit Diplom abgeschlossen. Und doch steht der 47-Jährige in keinem Hörsaal, um über prognostizierte Wahrscheinlichkeiten zu dozieren und analysiert auch keine Datensammlungen in irgendwelchen Landesämtern. Dieser Mann, der sich im nd-Gespräch selbstironisch als »Büromensch« einschätzt, entwirft im Hauptjob bunte Szenarien für große und kleine Kinder - nämlich Spiele. Sein bisher größter Erfolg ist Agricola, das die Teilnehmer in virtuelle Landwirte verwandelt; nach der Auszeichnung mit dem Deutschen Spielepreis 2008 wurden weltweit annähernd 400 000 Sets verkauft. Und der akademisch zertifizierte Rechenmeister hat auch eines seiner Nachfolgewerke, das Zwei-Personen-Duell Arler Erde, auf dem platten Land angesiedelt, zu einem fiktiven Zeitpunkt um das Jahr 1800 im real existierenden Dorf Arle in der tiefsten ostfriesischen Provinz.

Ein Zahlenprofi auf Abwegen? Uwe Rosenberg freilich kann an seinem Berufswechsel überhaupt nichts Ungewöhnliches entdecken: »Mit mathematischer Ausbildung machen viele Leute später etwas, das keineswegs dröge ist. Weil die Mathematik als solche eine künstlerische Komponente hat.« Also eine verborgene Schönheit von Addition und Subtraktion und dem vertrackten Rest? - »Genau! Wollen Sie einen mathematischen Satz beweisen, gelingt das meist nicht nach Schema F. Oft helfen nur Tricks weiter, ohne Fantasie läuft nichts.«

Dorf als Mutter der Stadt

Die Felder bestellen und Moore entwässern, Tiere züchten und Handwerksbetriebe in der Gemeinde ansiedeln: Das sind die Aufgaben, denen sich die beiden Partieteilnehmer in Arler Erde stellen. Abwechselnd platzieren sie ihre vier Steine, die Arbeiter repräsentieren, mal auf den Sommer- und mal auf den Winterfeldern des Spielplans.

Um jetzt loszulegen, bietet der Set reichhaltiges Material: von Tierfiguren bis zu Spielmarken für Kleidung, Gerätschaften, Transportmittel (Torfkähne, Karren oder Droschken) und Reiseziele. Frische Waren sollen in nahe gelegene Dörfer und Städte geschafft und dort in den Handel kommen.

Damit die komplexen Abläufe, die den Arbeitsalltag im Dorf nachstellen, realistisch simuliert werden, operieren die Spieler nicht nur auf dem großen Spielplan, sondern haben auch jeweils einen persönlichen Heimat- plus extra Scheunenplan. Am Ende von neun Durchgängen, die saisonale Halbjahre symbolisieren, wird saldiert. Gebäude, Fuhrwerke, Tiere, Waren und sogar Reiseerfahrungen schlagen positiv zu Buche. Und die höhere Punktzahl gewinnt. gra

Eine Kreativität, die Uwe Rosenberg im Spieldesign jetzt voll auslebt. Einen ersten Verkaufserfolg fuhr während der Studentenzeit sein Kartenspiel Bohnanza ein. Im Kollektiv mit anderen Autoren gründete Uwe Rosenberg das Start-up Lookout Games, aktuell ist er Teilhaber des Kleinverlages Feuerland. Die unabhängige Organisationsform ermöglicht ambitionierte Editionen - und dazu zählt eben auch der schon erwähnte Titel Arler Erde.

Dabei handelt es sich um eine interaktive Annäherung an die persönliche Familiengeschichte. Uwe Rosenberg wohnt mit Ehefrau und vier Kindern in Gütersloh, stammt aber eigentlich aus Aurich. Und Heimat der Großeltern ist das Nest Arle, dort heirateten seine Eltern, dort wurde er getauft.

Die Verbundenheit zur Heimat hat sich der Spielautor in der ostwestfälischen Diaspora bewahrt. Auf den Punkt gebracht mit dem Projekt Arler Erde, das Uwe Rosenberg zugleich als »Dankeschön« versteht: »Meine Eltern finanzierten das Studium. Und trotzdem forderten sie nicht ein, dass ich mich hinterher tatsächlich auf das Statistikwesen konzentriere. Sie haben einfach akzeptiert, dass ich meinen eigenen Weg ausprobiere.«

Der Mechanismus von Arler Erde orientiert sich am Muster der gegenwärtig populären Aufbauspiele, schließlich »schreit« die geografische Lage der namensgebenden Gemeinde »förmlich danach«, kommentiert Uwe Rosenberg. Warum? - Im Süden des Weilers arbeiteten Torfstecher, und im Norden werde Land gewonnen; das seien perfekte Aufhänger für wirtschaftliche Aktivitäten, analysiert der Erfinder. Torf eigne sich zum Verheizen, gleichzeitig könnten Siedler die betreffenden Flächen kultivieren. Alternative Optionen: Gebäude hochziehen und das Handwerk fördern, anstelle bloß auf Landwirtschaft zu setzen.

Das ausdifferenzierte taktische und strategische Instrumentarium gibt dem Spiel eine Tiefe, die Uwe Rosenberg sehr wichtig ist: »Die Liebhaber meiner Produktionen schätzen und erwarten das.« Keine Angst vor Qualität, die auch eigene Gedankenarbeit verlangt, in dieser ansonsten auf schnelle Kicks gepolten Epoche. Und Uwe Rosenberg ist noch einen Schritt weiter gegangen, hat ein Begleitheft zu Ostfrieslands Geschichte geschrieben, legt den Almanach jedem Set bei. So dass Arler Erde über das rein Unterhaltsame hinaus spannende Nebeneffekte auslöst: »Am Brett wird Interesse für das Land und seine reiche Kultur geweckt«, sagt Uwe Rosenberg.

Arler Erde zocken und in Ostfrieslands Geschichte eintauchen, das ist lustiger, als sich durch Heimatmuseen zu wühlen oder den Vorträgen lokaler Schreiber zu lauschen. Zumal die Vergangenheit der eigenwilligen Region im Nordwesten eine nähere Betrachtung lohnt: angefangen mit der bäuerlichen Selbstverwaltung, die in den Aufstieg selbstbewusster Häuptlinge mündete, allen voran Keno I. tom Brok (1310-1376). Dessen Namen übrigens auch der zweijährige Sohn des Arler Erde-Machers trägt.

Und obwohl Uwe Rosenberg bei der Konzeption des Spiels nicht zielgerichtet den Plan verfolgt hat, sein Projekt in die Museumspädagogik einzuführen - die Fans sollen in erster Linie Spaß haben haben, ohne erhobenen Zeigefinger -, hofft er dennoch darauf, dass die Verantwortlichen für Bildung auf Landes- und Bundesebene die zusätzliche Dimension von Arler Erde erkennen. In der Computerszene begännen »serious games« zu boomen, und Arler Erde sei in der richtigen Welt das Gegenstück zum Anfassen: »Können Lernende sich einen bisher unbekannten Stoff haptisch aneignen, indem sie damit zusammenhängende Dinge berühren, wird frisch erworbenes Wissen tief verankert.«

Also mit Arler Erde die Heimatkunde erden. Über entsprechendes Feedback der zuständigen Fachstellen würde sich Uwe Rosenberg natürlich freuen, aber er wartet nicht darauf. Andere Projekte müssen vorangetrieben werden. Wozu auch ein neues Ostfrieslandspiel gehört, das Tiefes Land heißen soll.

Uwe Rosenberg bleibt dabei bodenständig. Dieses Mal wird sich der Plot um Schafzucht drehen.

Weitere Infos: www.feuerland-spiele.de/spiele/arler_erde.php

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