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Systemfehler Kinderarmut

Familien- und steuerpolitische Entscheidungen verschärfen die Probleme der Schwächsten

  • Grit Gernhardt
  • Lesedauer: 3 Min.

Kinderarmut im reichen Deutschland - ein Thema, das viele politische und gesellschaftliche Akteure gern ignorieren. Denn gibt es keine Armut, muss kein Geld für ihre Bekämpfung ausgegeben werden. Auch die politische Bilanz der vergangenen Jahre sieht besser aus, wenn die Armutszahlen sinken. Und offiziell tun sie das, wie man im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nachlesen kann. So verwendet die Koalition statt der Armutsgefährdungsquote, die bei unter 60 Prozent des Medianeinkommens eines Landes liegt, inzwischen das Konzept der materiellen Deprivation. Demnach gilt nur als arm, wer Entbehrungen in drei von neun festgelegten Bereichen - etwa Miete, Heizung, Essen, Urlaub oder technische Geräte - erfährt. Von fast 20 Prozent sank der Anteil der armen Kinder und Jugendlichen damit rechnerisch auf elf Prozent. Dann wurde noch die Unterkategorie erhebliche materielle Deprivation (Entbehrungen in mindestens vier der neun Bereiche) eingeführt - und schon waren nur noch 4,7 Prozent der Unter-18-Jährigen arm.

Für Michael Klundt sind solche Schönrechnereien sowie polarisierendes und stigmatisierendes Reden über Armut ein Skandal. Der Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal hat deshalb in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) eine Studie erstellt, die aufzeigt, dass Armut ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das auch nur so gelöst werden kann. Mit der Aussage »Deutschland ist nicht Burkina Faso« verdeutlichte Klundt, dass es nicht reicht, nur absolute Armut als Problem zu begreifen. Die relative, also im Vergleich zur entsprechenden Vergleichsgruppe vorhandene Armut, grenze Menschen aus. Kinderarmut habe zwar unterschiedliche Gesichter, aber gemeinsam sei allen die fehlende Lebensperspektive, betonte RLS-Chefin Dagmar Enkelmann.

Klundt stellte die Studie am Donnerstag in Berlin bei einem Treffen des Netzwerks Kinderarmut vor, in dem sich auf Initiative der LINKEN Bundes- und Landespolitiker, Wissenschaftler und Sozialverbände zusammengeschlossen haben. Kinderarmut in einem der reichsten Länder komme nicht aus dem Nichts, sondern sei Folge politischer Entscheidungen, so die einhellige Meinung.

Welche das sind, erklärt die Studie ausführlich: In den vergangenen 15 Jahren vorgenommene Reformen des Renten-, Gesundheits- und Steuersystems wirkten als »kolossale Umverteilungsprojekte von unten nach oben«, verstärkten Altersarmut, entlasteten Spitzenverdiener und belasteten dabei die Haushalte von Staat, Ländern und Kommunen. Angesichts von Milliardenmehreinnahmen, wie sie der Steuerschätzerkreis am Donnerstag bekanntgab, dürfe deshalb nicht über Steuersenkungen nachgedacht werden, die ohnehin meist nur den Reichen zugute kämen, so Klundt. Vielmehr müsse das Geld so ausgegeben werden, dass die unteren Einkommensschichten etwas davon hätten. Kinder seien nicht die Ursache für Armut, sondern höchstens ein Anlass, den ein gerechtes Steuer- und Sozialsystem aber ausgleichen könne, wie das Vorbild Skandinavien zeige.

Ins gleiche Horn stieß LINKEN-Fraktionschef Dietmar Bartsch: »Wo Kinderreichtum zum Armutsrisiko wird, kann von Sozialstaat keine Rede mehr sein«, brachte er die prekäre Situation auf den Punkt. Laut Klundt profitiert das reichste Zehntel der Gesellschaft deutlich mehr von familienpolitischen Fördermaßnahmen als das ärmste, das es am nötigsten habe. Initiativen auf kommunaler und Landesebene könnten das Problem entschärfen helfen, die Voraussetzungen dafür müsse aber die Bundespolitik schaffen.

Insofern sei die Studie zwar kein Wahlkampfpapier, aber dennoch nichts weniger als ein »Frontalangriff auf die Bundesregierung«, so Bartsch. Kinderarmut sei eine »gesamtstaatliche Aufgabe, die angegangen werden muss«. In der nächsten Regierung müsse das Thema einen weit höheren Stellenwert zugewiesen bekommen.

Denn Armut ist nicht nur ein finanzielles Problem, sondern auch eines der Mitbestimmung: In politischen und gesellschaftlichen Ämtern seien Wohlhabende überrepräsentiert, ebenso bestimmten sie durch wohlüberlegte Kommunikationsstrategien und Studien die Wahrnehmung von Armut in der Öffentlichkeit. Als Beispiel nennt Klundt den ehemaligen SPD-Politiker Thilo Sarrazin, der mit seinen Thesen zu Hartz IV und Einwanderung zu einer Biologisierung und Ethnisierung der Debatte beigetragen habe, die letztlich Armut verschärfe.

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