Meine liebsten Verrückten (eine Top Five)

  • Volker Surmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Platz 5: Der Grenzpunk. »Mach dich nich so breit«, pöbelt der Nachwuchspunk das Mädchen neben ihm in der S-Bahn an. Sie solle ihre blöde Tasche auf den Schoß nehmen. Ich weiß nicht, ob er »gefälligst« gesagt hat, aber ich glaube, ja. Als sie, selbst eher alternativ gekleidet, protestiert, zeigt der Punk auf die Naht in den Sitzpolstern: »Ey, hier ist die Grenze!« Er dürfte der erste Punk sein, der offen für Grenzen, Recht und Ordnung eintritt.

Platz 4: Der Hippie. Ich fahre nachts mit dem Auto durch meinen Kiez. Plötzlich tritt eine Gestalt mitten auf die Fahrbahn und bleibt stehen. Zauselbart und lange Haare, wallende Klamotten in den Farben Batik, Batik und Batik. Auto und er, wir stehen wie zum Duell bestellt. Ich will vorsichtig um ihn herumlenken, er versperrt wieder den Weg. Ich hupe, er trottet übertrieben gemächlich zur Seite. Als Berliner Autofahrer reagiere ich in solchen Momenten mit hauptstadttypischer Gelassenheit, d. h. ich lass die Scheibe runter und argumentiere: »Hast du sie noch alle, du Wichser?!« Der Hippie zeigt mir den Stinkefinger und brüllt: »Nicht ich bin der Wichser, sondern du fährst Auto!« Da wird mir kurz warm ums Herz: Dass es so was noch gibt in dieser schnelllebigen Stadt!

Platz 3: Die Verkehrserzieherin. »’tschuldigung! Aber Sie als Radfahrer haben auf der mittleren Spur überhaupt nix zu suchen!«, keift mich eine überschminkte Schickse aus dem Fenster ihres Sportwagens an einer Neuköllner Ampel an. »Das ist nicht die Mittel-, sondern die Geradeausspur. Rechts ist für Abbieger!«, rufe ich, will auf die Pfeile auf dem Asphalt deuten, aber die Ampel schaltet gerade um, ihr Sporwagen röhrt, zischt los, zieht nach 20 Metern auf die Geradeausspur, schneidet einen wütend hupenden Lieferwagen und biegt dann unvermittelt nach links ab. Und ich bin mir sicher, dass sie dabei denkt: Dem hab ich’s aber mal so richtig gezeigt! Wie recht sie hat!

Platz 2: Die Quartiersverrückte. Zeternd läuft sie mit einem Stock in der Hand durch den Kiez und brüllt unsichtbaren Menschen unverständliche Verwünschungen nach. Doch einmal sah ich sie in anderem Licht. Sie stand an einer Ampel, die Reflexionen eines Fensters in der Häuserfront gegenüber tauchten allein sie in gleißendes Sonnenlicht. Ihre schmuddelbeige Strickjacke leuchtete in elfenbeinfarbenem Glanz. Ihre Haare wehten weiß im Wind, kraftvoll hatte sie ihren Stock erhoben, als wolle sie ein Meer teilen. In diesem Moment war sie eine Prophetin, die nicht wirr, sondern bloß in Zungen redete. In diesem Moment war sie die Jeanne d’Arc des Friedrichshains. Dann schickte Gott eine Wolke.

Platz 1: The man with a bitch. »Kommst du wohl zurück, Bitch!« Dass die Umgangsformen auf Berlins Trottoiren roh sind, war mir klar, aber so grob? »Ey, Bitch! Hab ich dir erlaubt, da hinzugehen?« Ich schaute mich um und erblickte erwartungsgemäß einen kurzhaarigen Goldkettchenproleten, jedoch nicht die dazugehörige Bitch. Es brauchte etwas, bis ich begriff, dass er mit dem Mops zu seinen Füßen redete.

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