Bergmanns Trost

In Leipzig soll die Industriegeschichte der Region nach 1989 aufgearbeitet werden

  • Hendrik Lasch, Leipzig
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Karte ist so groß wie vier Briefbogen und zeigt das mitteldeutsche Kohlerevier rund um Leipzig: Dutzende Kohlegruben, Kraftwerke und Brikettfabriken zwischen Altenburg, Mücheln und Gräfenhainichen. Neben 30 davon steht auf gelbem Grund ein Datum: der Tag der Schließung. Von Weihnachten 1990 an wurden die Betriebe stillgelegt; viele tausend Kumpel verloren ihren Job.

Die Karte gehört zu einem Konvolut von Akten, das jetzt vom Kohleförderer Mibrag an den Verein »Sächsisches Wirtschaftsarchiv« in Leipzig übergeben wurde - und das in den nächsten Jahren dazu beitragen soll, die regionale Industriegeschichte am Ende der DDR aufzuarbeiten. Die insgesamt 600 laufenden Meter Unterlagen dokumentieren zwar rund 100 Jahre Kohlebergbau in der Region: Entschädigungsverfahren in Dörfern, die den Baggern weichen mussten; Karten und Lieferscheine; Fotos von Maschinen und Beschäftigten. Wissenschaftliches Interesse gibt es aber vor allem für die Zeit des Grubensterbens ab 1989.

Das stellte einen schweren Einschnitt nicht nur für die Region insgesamt dar, in der zeitweise 30 Prozent Arbeitslosigkeit herrschten. Die Abwicklung der Betriebe war auch für viele Beschäftigte ganz persönlich schwer zu verkraften. Viele Bergleute hätten ihre Arbeitsstätten selbst abreißen müssen, sagt Walter Christian Steinbach, einst Regierungspräsident in Leipzig. Um »Verletzungen«, die das hinterließ, habe sich nie jemand professionell gekümmert.

Steinbach hat nicht den Anspruch, das 27 Jahre später zu korrigieren. Der Verein »Dokumentationszentrum Industriekulturlandschaft Mitteldeutschland« (DokMitt), zu dessen Gründern er gehört, will aber immerhin die Erinnerungen früherer Bergleute zusammentragen: »Wir wollen möglichst viele noch lebende Zeitzeugen befragen.«

Ein Unterfangen, das weit mehr als nur historisches Interesse befriedigen kann, sagt Petra Köpping. Die SPD-Politikerin, einst Landrätin im Leipziger Revier, ist inzwischen Ministerin für Gleichstellung und Integration in Sachsen. Als solche sorgt sie sich nicht nur um Zuwanderer, sondern auch jene Sachsen, bei denen die Erfahrungen der Wendezeit zu anhaltender Frustration geführt haben. Bei vielen habe der Umgang mit ihnen und ihren Betrieben »hohes Misstrauen« bewirkt, dass sie »auf das demokratische System übertragen« hätten. Das habe, so Köppings These, zu Phänomenen wie Pegida und dem Erstarken der AfD gerade in Ostdeutschland beigetragen.

Köppings Hoffnung ist, dass »ehrliche Aufarbeitung« und die Anerkennung der Lebensleistungen im Osten eine versöhnlichere Haltung bewirken kann. Einfach wird das nicht. Köpping beklagt zum Beispiel, dass 80 Prozent der Treuhandakten mit Sperrfristen von 30 Jahren versehen seien. Vermutungen, manche Betriebe hätten gerettet werden können und seien nur zur Marktbereinigung abgewickelt worden, lassen sich so kaum überprüfen. Immerhin: Einige Protokolle auch aus der Treuhand finden sich dennoch im 1993 gegründeten Sächsischen Wirtschaftsarchiv - neben den Nachlässen von 280 Unternehmen der Region.

Mühsam wird es aber auch, Erinnerung der damals Beteiligten zu sammeln. Manche haben diese zwar schon selbst dokumentiert - im Rahmen von Projekten zur Industriekultur, wie sie in den 1990er Jahren als ABM-Maßnahmen stattfanden. Diese versandeten aber oft mit Auslaufen der Finanzierung; zudem gab es selten fachliche Unterstützung. Der Verein DokMitt will nun mit Wissenschaftlern der Universität Leipzig kooperieren, die Methoden der »Oral History« beherrschten, sagt Steinbach. Zudem hofft er auf Fördergelder aus dem Programm »Weltoffenes Sachsen«. Ein erster Antrag werde im Juni beschieden, sagt Ministerin Köpping. Insgesamt geht Steinbach von einer Laufzeit von vier Jahren aus, in der auch Kongresse ausgerichtet und Publikationen erstellt werden sollten.

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