Sakrale Kunst und menschliches Leiden

Die Zitadelle Spandau zeigt eine Hommage an die Bildhauerin Jenny Wiegmann-Mucchi

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Eindringlich heben sich die spröden Werke der Jenny Wiegmann-Mucchi von dem nüchtern sachlichen Weiß der Wände ab. Rund 85 Arbeiten - Statuen verschiedener Größe, Reliefs, Zeichnungen - vereint die Ausstellung in den suitenartig verknüpfen Räumen der Alten Kaserne auf der Zitadelle Spandau. Diese Schau ist gleichsam eine Hommage an eine zu Unrecht weniger populäre Künstlerin mit Lokalbezug: In Spandau erblickte die Konditorstochter 1895 das Licht der Welt. In die Welt hinein führte bald ihr Lebensweg.

Vorerst absolvierte sie eine fundierte Ausbildung, Malerei bei Lovis Corinth, der ihre bildhauerische Begabung entdeckte und sie an einen Schüler von Reinhold Begas verwies. Im letzten Kriegsjahr, 1918, studierte sie in München, dann an der Kunstgewerbeschule Charlottenburg Holzbildhauerei. Dort lernte sie Berthold Müller-Oerlinghausen, ihren ersten Ehemann, kennen, mit dem die Protestantin zum Katholizismus konvertierte. Gemeinsame Reisen nach Italien vertieften die Kunsteindrücke, die Jennys Ansichten prägen sollten.

Am Anfang aber standen Aufträge für Kirchen: die Antonius-Kapelle in Oerlinghausen, mit Entwürfen für die Muttergottes noch byzantinischen Zuschnitts; dann für eine Erzabtei nahe München drei Sockelreliefs, mit Gründung des Klosters Fulda durch Bonifatius als Mittelteil; für eine Franziskaner-Kirche in Hagen Steinreliefs und eine segnende Franziskus-Figur; im heute polnischen Schneidemühl eine messinggetriebene Kanzel für die Antonius-Kirche. Dabei ging es dem Ehepaar um eine unorthodoxe sakrale Kunst, die beide populär machte.

In ihrem Berliner Atelier schuf Jenny zumeist weibliche Skulpturen, die bei großen Ausstellungen gezeigt wurden. Dass der italienische Architekt und Bildhauer Gabriele Mucchi, den die Eheleute in Rom getroffen hatten und nach Berlin einluden, das Ende ihrer Verbindung einläutete, war da noch nicht abzusehen.

In Paris, wohin sie Mucchi nach der Scheidung 1933 folgt, lesen die neuen Wahlverwandten als Reaktion auf die Erfolge der Nazis marxistische Theoretiker. Der Jünglingskopf »Angst«, die Hand bang an der Wange, drückt Jennys Stimmung aus. Auf lange Zeit wird Mailand das Zuhause des neuen Paares. Dort gehören Künstler wie der Maler Renato Guttuso zu den Freunden. Dort erleben sie auch Terror und Mord durch die einmarschierenden Deutschen.

Jenny, die ideologisch motivierte Kunst meidet, wird freiwillig Fahrradkurier einer Partisanenorganisation der Kommunistischen Partei. Statt religiöser Motive wendet sie sich menschlicher Leiderfahrung zu, so in »Schmerz und Scham« oder »Gefolterter Partisan«. Als italienische Staatsbürgerin kann sie auch während des Krieges persönlichen Kontakt zur Familie in Spandau halten, wo Bomben das Wohnhaus zerstören. Auch die Mailänder Wohnung geht in Flammen auf, unter Verlust eines Teils ihrer Werke.

Nach dem Krieg pendelt sie, mit Wettbewerbspreisen und vielen Einzelausstellungen geehrt, zwischen Mailand und Berlin, weil ihr Mann Gabriele Mucchi eine Gastprofessur an der Kunsthochschule Weißensee antritt. Zwar stehen Jenny wie auch Gabriele für Realismus der Darstellung, folgen indes nicht dem sozialistischen Realismus, der Parteidoktrin wird. Dennoch bleibt Berlin-Ost ihr Domizil: Die restaurative Politik der alten Bundesrepublik hatte Jenny, die Zeugin in einem Prozess gegen Nazi-Mörder in Italien war, misstrauisch gemacht. Waldemar Grzimek, René Graetz und Fritz Cremer, Heinrich Ehmsen und Herbert Sandberg zählten bald zu den engeren Freunden. Von Ehmsen, Arnold Zweig, Paul Dessau, der Operndiva Maria Callas zeugen in der Alten Kaserne liebend individualisierende Büsten.

Wie sehr Jenny Wiegmann-Mucchi, ehe sie 1969 verstarb, an den Umwälzungen der Zeit Anteil nahm, zeigen Plastiken zu den blutigen Kämpfen in Algerien, Kongo und Vietnam. Da sitzt eine Frau aus Zement verdattert und leicht zurückgelehnt auf dem Boden, als erwarte sie ihr Urteil; da kauert der malträtierte Patrice Lumumba im Wissen um seine nahe Liquidierung; da steht stolz und aufrecht eine Frau beim »Verhör in Algerien«; da öffnet sich der Mund einer Vietnamesin zum »Schrei«.

Rau ist stets die Oberfläche, unter der die Emotionen durch den Körper schießen. Nirgendwo steigert sich die Darstellung in hohles Pathos, triumphiert agitatorischer Eifer. Vielmehr geht es ihr um ideologiefreie, zutiefst humanistische Empathie mit Leidenden. Das macht ihre Kunst, egal welchen Formats und von welcher Inspiration, ob von etruskischen oder frühchristlichen Werken, von blockhafter oder feinliniger Ausführung in welchem Material auch, über die Zeiten wichtig als Ausdruck einer ehrlichen und authentischen Beschäftigung mit dem Menschen.

»Genni. Jenny Wiegmann-Mucchi (1895 - 1969). Bildhauerin in Italien und Deutschland«, bis zum 3. September im Stadtgeschichtlichen Museum Spandau/Zitadelle, Am Juliusturm 64

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