EU und Türkei: Aneinander gebunden

Die Staatengemeinschaft und Ankara sind ökonomisch eng miteinander verflochten / EU-Vorbeitrittshilfen sind da eher Nebensache

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Man könne so viel unternehmen, um Erdoğan in die Schranken zu verweisen, heißt es derzeit. Lagerübergreifend werden Forderungen laut, die EU-Beitrittsverhandlungen auf Eis zu legen - vor allem um die Zahlung der Heranführungshilfen zu stoppen, die die Türkei als Beitrittskandidat erhält. Tatsächlich aber ist die Türkei an anderer Stelle viel druckempfindlicher - bei den wirtschaftlichen Beziehungen mit der Europäischen Union. Nur: Das ist die EU auch.

Seit Bestehen der Zollunion, seit 1996, hat sich das Handelsvolumen zwischen Türkei und EU vervierfacht. 2016 war die Türkei der viertgrößte Absatzmarkt für die EU, europäische Firmen führten Güter für 78 Milliarden Euro in das Land aus. Türkische Unternehmen exportierten umgekehrt Waren im Wert von 66,7 Milliarden Euro in die EU, sie ist für die Türkei der größte Auslandsmarkt.

Auch zwei Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen kommen aus der EU. Ingesamt betrugen die Direktinvestitionen aus dem Ausland in den vergangenen fünf Jahren fast 48 Milliarden US-Dollar. Und laut Türkischer Zentralbank stiegen die ausländischen Direktinvestitionen auch in den ersten fünf Monaten dieses Jahres noch an. Das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sagt, türkische Firmen seien mittlerweile »stark in die europäischen Produktions- und Wertschöpfungsketten integriert«. Das heißt: An der ökonomischen Schraube zu drehen, wäre zwar der sichere Weg, um Druck in Sachen Menschenrechtswahrung zu erzeugen. Hier steht aus EU-Sicht jedoch viel auf dem Spiel.

Mit drin hängen auch Europäische Förderbanken. Die EBWE hat in den vergangenen Jahren neun Milliarden Euro für 200 Projekte vergeben. Ein Beispiel: TFI TAB Food Investments erhielt Kredite über 50 Millionen Euro, um das Netz von Burger-King-Filialen in der Türkei auszubauen.

Die den EU-Mitgliedsstaaten gehörende EIB vergab seit 2005 sogar 22 Milliarden Euro. Die Türkei ist das wichtigste Empfängerland der EIB außerhalb der EU. Finanziert wird unter anderem die Transanatolische Pipeline, die Erdgas aus Aserbaidschan nach Europa transportieren soll. Anfang der Woche erklärte die EIB allerdings, die Kreditzusagen wegen der Lage im Land prüfen zu wollen. Als sehr »engagiert« gelten auch Spanische Geschäftsbanken. 82 Milliarden Euro haben sie der Türkei geliehen, weshalb von der Spanischen Regierung Zurückhaltung erwartet wird, wenn die EU über den Umgang mit Ankara berät.

So könnte es zu einem Konflikt innerhalb der EU kommen. Laut Nachrichtenagentur Reuters wird in einem Argumentationspapier der Bundesregierung vorgeschlagen, die EU-Kommission unter Druck zu setzen, gegenüber Ankara einen »härteren Kurs« einzuschlagen: Unter anderem sollen die Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion nicht weitergeführt werden. Es heißt dort aber auch, man unterstütze »entschieden eine weitere Zusammenarbeit mit der Türkei bei der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen wie der Flüchtlingskrise, dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder in Umweltdingen«.

Eine Depression der bereits schwächelnden türkischen Wirtschaft zu riskieren, dürfte auch aus einem anderen Grund nicht im Interesse der EU sein: Angesichts der Lage im Nahen Osten ist eine stabile Türkei an einer geostrategisch zentralen Schnittstelle von hohem Wert für den Westen.

Also doch Druck über die Vorbeitrittszahlungen? Aus zwei Gründen sind die Möglichkeiten hier beschränkt: Zum einen kann die AKP-Regierung - auch wegen einer (noch) relativ niedrigen Staatsschuldenquote - ausbleibende Zahlungen leicht ausgleichen. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft erklärte, die Geldströme seien »am Ende das wenigste«. Entscheidender Hebel sei die Zollunion, so Hüther.

Zum anderen entzieht sich ein Teil der Heranführungshilfen im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen dem Direktzugriff der AKP-Regierung. Das wenigstens behauptet EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Er erklärte jüngst, für den Zeitraum 2014 bis 2020 seien 4,45 Milliarden Euro Heranführungshilfen vorgesehen, davon seien bisher aber nur 190 Millionen Euro ausgezahlt worden. Man habe Mittel an die Zivilgesellschaft »umgeleitet«. Auf Nachfrage des »nd« konkretisierte Hahns Sprecherin, dass die Verlagerung der EU-Geldes in Bereiche wie Bildung und Austausch erfolgte. Sie gingen zum Beispiel an Austauschprogramme wie Erasmus oder Horizon sowie als Direktzahlungen an zivilgesellschaftliche Organisationen.

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