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Hoffen auf ein Stück Gerechtigkeit

VW-Arbeiter und Folteropfer Lúcio Bellentani kämpft um seine Würde und gegen die Zeit

  • Laura Burzywoda, São Paulo
  • Lesedauer: 5 Min.

Sebastião Neto, Gabriel Dayoub und Milena Fonseca sitzen dicht gedrängt vor einem der Computer im Büro des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts IIEP (Intercâmbio, Informações, Estudos e Pesquisas - »Austausch, Informationen, Studien und Forschung«) in São Paulo. Endlich haben sie im hektischen Büroalltag eine freie Minute gefunden. Schnell wird noch ein Glas Wein ausgeschenkt, dann geht es los. Lúcio Bellentani, enger Freund und Mitstreiter der drei, taucht auf dem Bildschirm auf und erzählt von seinen traumatischen Erfahrungen im Folterzentrum DOPS.

1972 wurde Bellentani festgenommen - und zwar an seinem Arbeitsplatz, im VW-Werk in São Bernardo do Campo, einer Nachbarstadt von São Paulo. Im Anschluss erlebt er die schlimmste Zeit seines Lebens und muss in der Haft grausame Folter ertragen. VW macht er dafür mitverantwortlich. In der Fernsehdokumentation »Komplizen? - VW und die brasilianische Militärdiktatur« berichtet er über die Leiden, die ihm während der Militärdiktatur widerfahren sind. Ausgestrahlt wurde die Reportage erstmals am 24. Juli in der ARD, doch auch die portugiesische Version, die die drei Aktivist*innen gespannt verfolgten, war bereits am gleichen Tag im Internet verfügbar.

Im Büro des IIEP waren das Interesse und die Erwartungen an den deutschen Dokumentarfilm groß. Aktivist*innen und Ex-Mitarbeiter*innen versuchen seit Jahren, den ehemaligen Arbeitgeber VW für die Zusammenarbeit mit dem Militärregime zur Verantwortung zu ziehen. Neto, Dayoub und Fonseca sind Teil der Gruppe, die im September 2015 die Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo dazu aufforderte, Ermittlungen gegen den Konzern einzuleiten.

VW soll sich in der Zeit der Diktatur in Brasilien (1964 bis 1985) an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig gemacht haben. In Brasilien gibt es schon seit einigen Jahren eine Debatte darum, ob die Militärdiktatur nicht eher als eine zivil-militärische Diktatur bezeichnet werden müsse, um die Rolle der Unterstützung aus nicht-militärischen Zusammenhängen - wie auch von VW - hervorzuheben. Das deutsche Unternehmen überwachte die politischen Aktivitäten seiner Arbeiter*innen und schickte Informationen zu oppositionellen Angestellten an die Sicherheitspolizei. So ermöglichte VW politische Verfolgungen, Festnahmen und Folter der eigenen Arbeiter*innen.

Nun kommt noch einmal neuer Schwung in die Ermittlungen. NDR, SWR und SZ präsentierten in der Dokumentation die Ergebnisse einer Recherche, die sich mit der Kollaboration des Unternehmens mit der Militärdiktatur befasst. Die Fernseh-, Audio- und Zeitungsbeiträge sorgten für große Resonanz in vielen deutschen und brasilianischen Medien.

Was Bellentani in der Dokumentation berichtet, hören die drei vor dem Monitor nicht zum ersten Mal. Dieser hat seine Geschichte schon unzählige Mal erzählt, auch wenn es ihm bis heute schwer fällt, über dieses dunkle Kapitel seiner Vergangenheit zu reden. Er tut dies nur in der Hoffnung, dass Volkswagen die Schuld eingesteht und seine Fehler anerkennt.

Seine Anfänge nahm alles mit der Arbeit der Nationalen Wahrheitskommission, die 2012 von der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) eingerichtet wurde. Eine Arbeitsgruppe der Kommission hatte sich intensiv mit Verbrechen gegen Arbeiter*innen beschäftigt. Sie kam zum Ergebnis, dass mindestens 70 Unternehmen mit dem Militärregime kollaboriert hatten. 114 Arbeiter*innen seien in den Jahren der Diktatur ums Leben gekommen. Für mehr Details reichte es allerdings nicht - die unterbesetzte Kommission gab schon im Dezember 2014 ihren Abschlussbericht ab. Es blieben viele Fragen.

Daher gründeten sich parallel zahlreiche weitere regionale Wahrheitskommissionen. In São Paulo, dem wirtschaftlichen und industriellen Zentrum Brasiliens, befassten sich die bundesstaatliche Kommission »Rubens Paiva« und die städtische Kommission »Vladimir Herzog« intensiv mit der Rolle der Unternehmen. Letztere organisierte bereits im Juli 2012 die erste Anhörung zu den Vorwürfen gegen VW do Brasil. Hier erzählte Lúcio Bellentani erstmals öffentlich von seiner Festnahme und den Konsequenzen.

Das »Arbeiterforum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparation« fordert kollektive Entschädigungen von den Unternehmen, die mit dem Militärregime zusammengearbeitet haben und ihre Angestellten den Repressionsorganen auslieferten. Am 22. September 2015 stellte das Forum mit der Unterstützung von zehn brasilianischen Gewerkschaftsverbänden einen Antrag bei der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo, Ermittlungen gegen das Unternehmen einzuleiten. Seit knapp zwei Jahren sammelt der zuständige Staatsanwalt Pedro Machado nun weitere Nachweise, die Aufschluss über das volle Ausmaß der Kollaboration geben können. Anfang 2017 nahm die Staatsanwaltschaft zur Unterstützung den renommierten Politikwissenschaftler Guaracy Mingardi unter Vertrag. Auf Grundlage der eingereichten Unterlagen, Zeugenaussagen und dem Ergebnis der Arbeit des Forschers soll in Kürze darüber entschieden werden, ob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen VW erhebt.

VW reagiert derweil widersprüchlich auf die Vorwürfe. Dem Mutterkonzern in Wolfsburg ist offenbar daran gelegen, Bereitschaft zur Aufklärung nach außen zu vermitteln. Zunächst beauftragte er den eigenen Chefhistoriker Manfred Grieger mit Untersuchungen. Nach dessen überraschendem Abgang Ende 2016 nahm VW dann den Historiker Christopher Kopper aus Bielefeld unter Vertrag.

Den Betroffenen vor Ort ist das jedoch nicht genug. Für Sebastião Neto steht fest, dass das Unternehmen auf Zeit spielt und versucht, sie an der Nase herum zu führen. Die Veröffentlichung der neuen Erkenntnisse in den Medien wecken in ihm die Hoffnung, dass nun etwas ins Rollen kommt.

Kopper bestätigte gegenüber der Tageszeitung »Estado de São Paulo«, das 125-seitige Gutachten bei der Unternehmensleitung eingereicht zu haben. VW will die Ergebnisse veröffentlichen - wann, ist aber noch unklar. Der Historiker schätzt, dass aufgrund der Kollaboration von VW mit der Militärdiktatur sieben bis zehn Arbeiter*innen verhaftet und verurteilt wurden, mindestens 100 weitere seien wegen Teilnahme an Streiks und Demonstrationen entlassen worden.

Die Betroffenen in São Paulo kämpfen gegen die Zeit. Doch die neuen Ergebnisse und die große Aufmerksamkeit könnten den Druck auf VW erhöhen und die Entwicklungen vorantreiben. Lúcio Bellentani hofft weiterhin auf Gerechtigkeit. Er betont, dass es ihm nicht um Vergeltung oder individuelle finanzielle Entschädigung gehe, sondern darum, Anerkennung zu erlangen und seine Würde wiederherzustellen. Aber eine Entschuldigung scheint für VW noch zu viel verlangt.

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