Horror und Herrschaft

Warum fasziniert uns die Angstlust, die von Gewaltdarstellungen ausgelöst wird, so sehr? Von Gerhard Schweppenhäuser

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.

Bilder vom Töten und Sterben faszinieren die Betrachter. Die alte Faszination lebt in der Bilderwelt der heutigen Massenmedien auf. Wer Tötungen ansehen und Opfer betrachten möchte, die auf bizarre Weise getötet wurden, sich das Spektakel aber nicht durch eigene Aktivität verschaffen will oder kann, der hält sich mit Bilderzählungsformaten wie Thriller/Horror/Krimi schadlos, die zu den erfolgreichsten Medienformaten der Massenkunst gehören.

Die Attraktion des Anblicks gewaltsam getöteter Artgenossen ist ambivalent: Man zuckt schaudernd zurück, kann aber den Blick nicht abwenden. Immer mehr wird gezeigt, immer raffinierter werden die Darstellungen. Wem die Medienbilder nicht ausreichen, weil er echte Opfer sehen will, hält auf der Autobahn das Mobiltelefon bereit, um Fotos von Unfällen zu machen.

Wieso fasziniert die Visualisierung von Tod und Sterben? Zwei Vermutungen drängen sich auf. Die Reize, die die Aufmerksamkeit des Betrachters fesseln, müssen immer stärker werden. Und es kann sehr reizvoll wirken, wenn sozio-moralische und symbolische Ordnungen momentan in Frage gestellt und doch stets wiederhergestellt werden. So kann man erklären, warum immer mehr Bilder von Toten am Tatort oder auf dem Tisch der Pathologen auf dem Fernsehschirm zu sehen sind. Aber ist das alles? Gibt es Gründe für die Aufmerksamkeitsdynamik und das ambivalente Verhältnis zur Ordnung? Die Frage kann man nicht geradewegs beantworten. Aber man kann Konzepte finden, die beim Verständnis weiterhelfen: in Kultur- und Religionsgeschichte, in Bildwissenschaft und Medientheorie sowie in der Philosophie.

Kultur und Tod

Giambattista Vico ist der Ahnherr der neuzeitlichen Kulturwissenschaften. Er lehrte, dass Kultur beginnt, wenn Menschen ihre toten Vorfahren bestatten und Begleitrituale entwickeln. Viel Wahres dürfte daran sein; aber man darf es sich nicht so friedlich vorstellen, wie es die Institution des Friedhofs nahelegt. Die reale und symbolische Verarbeitung todbringender Gewalt ist vermutlich der Ursprung der meisten Kulturen. Keine Kultur ohne Furcht und Schrecken: Das hat kein Philosoph genauer erkannt als Friedrich Nietzsche. »Härten und Gewaltsamkeiten« sind für ihn die »mächtigste(n) Bindemittel zwischen Mensch und Mensch«. Religiöse Praktiken wie »die Erstlingsopfer«, »die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen)« sowie allgemein »die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte«: Nietzsche dechiffrierte sie als Medien und Träger des sozialen Kulturgedächtnisses.

Reale und symbolische Opfer

Wie wir aus der religionsgeschichtlichen Forschung wissen, standen am Anfang aller Kulthandlungen spektakulär inszenierte Opferszenen, bei denen Mitglieder der eigenen Stammesgruppe nach strengen Ritualen getötet wurden. »Das griechische Verb rezein ist das Wortgedächtnis für diesen Sachverhalt«, schreibt der Leipziger Philosoph Christoph Türcke: »Es bedeutet sowohl ›Opfer darbringen‹ als auch generell ›handeln, tätig sein‹. Töten - das tun auch die Tiere, gelegentlich auch ihresgleichen. Aber rituell töten, in feierlicher Versammlung an einem bestimmten Ort nach einem festgelegten Schema: Das ist ein spezifisches, exklusives Merkmal des Menschen.«

Die folgenreichste zivilisatorische Errungenschaft des Christentums bestand darin, reale Tötungsopfer durch ein symbolisches Opfer zu ersetzen. Todbringende Gewalt ist dadurch aber nicht aus der Welt. Sie begleitet uns real, symbolisch und bildlich.

Um dieser Ambivalenz auf den Grund zu kommen, kann man mit dem Karlsruher Kunsthistoriker Hans Belting einen Exkurs in die Bildgeschichte machen. Jesus Christus wurde als Verkörperung Gottes in der Person Jesus Christus ausgegeben, die Person Jesus als »Bild« Gottes interpretiert. Gott zeigte sich den Gläubigen in der Gestalt eines sterblichen Menschen. Als Wahrheitsbeweis musste Jesus den Opfertod sterben. Bilder, die sich als Abbilder auf dieses Urbild zurückbeziehen ließen, galten als authentische Überlieferung. Zunächst die Abdrücke des Gesichts von Jesus auf Textilien - auf dem Tuch, das ihm die heilige Veronika auf dem Weg zur Kreuzigungsstätte reichte, und auf dem Grabtuch, das den getöteten Christus bedeckte. Das tröstete die Gläubigen und flößte den Ungläubigen Furcht ein. Das lutherisch-moderne Christentum versuchte, solche Bilder zu verdrängen. Soziale Ordnung und Herrschaft ließen sich wirkungsvoller durch Verinnerlichung des religiösen Gehorsams installieren. Aber unterhalb der Ordnung brodelten die geheimen Wünsche und Ängste, nie verlor das Thema seinen unheimlichen Zauber.

Verinnerlichung und Visualisierung

In diesem Licht scheint es nicht zu weit hergeholt, die Faszination von Bildern der Toten als archaische Spur zu interpretieren - als kulturelle Wiederkehr dessen, was Kultur verdrängt hat. Unterhalb der stabilisierenden Kraft der Abstraktion ist das Bedürfnis nach Anschaulichkeit keineswegs verschwunden.

Bilder von Tod und Sterben dienten in den Anfängen der westlichen Kultur dazu, abwesende Tote im Medium der Sichtbarkeit zu vergegenwärtigen. Was im Bild festgehalten war, wurde als real präsent aufgefasst. Totenbilder halfen bei der Wahrung heidnischer Familientraditionen. Bilder vergegenwärtigten Abwesendes, das Furcht einflößt oder Sicherheit vermittelt - nicht als visuelle Zeichen, sondern als konkrete Erscheinungsbilder.

Man darf vermuten, dass sich die lebenden Bilder der kollektiven Tötung von Mitgliedern der Gemeinschaft in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben. Sie wurden im Laufe der Zeit religiös überformt, doch sie blieben Bilder tödlicher Gewalt. Darstellungen des Todes, des Todeskampfs und des Tötens finden sich in der westlichen Kunst unter mehreren Aspekten. Im Theater der Antike steht die therapeutische Absicht, die aristotelische Katharsis, im Zentrum. Auch in der christlichen Tradition ging es um wirksame Gegenwart der Bildobjekte. Furcht und Schrecken, herabgestuft zu Ehrfurcht und Demut, sind Empfindungen, die Unterwerfung und Gehorsam wahrscheinlicher machen. Dies wird in religiösen Kulten visuell vermittelt.

In der bildenden Kunst kam die Verklärung des physischen Leidens hinzu, wie auf Mathias Grünewalds Isenheimer Altar. In der Neuzeit und Moderne brach sich die Aufklärung über weltliche Gewalt visuelle Bahnen, wie etwa in Francisco de Goyas Drucken von den Schrecken des Krieges. Die abgeklärte Massenkultur der Gegenwart will die effektvolle Inszenierung, die Alfred Hitchcock bekanntlich meisterhaft beherrschte. Wichtiger als die Bewältigung von Furcht und Schrecken wird die Produktion des Begehrens.

Medien, Ausübung und Darstellung von Gewalt

Wenn der Effekt, das stimulierende Erlebnis, vor dem Nachdenken rangiert, ist es nicht mehr weit zum begierigen Konsum des Schrecklichen. Horrorfilme funktionieren, weil die ikonische Präsenz von etwas Abwesendem keineswegs nur tröstlich sein kann (wie das Bild der verstorbenen Eltern oder der fernen Geliebten). Sie kann auch schockieren. Warum fasziniert die Angstlust, die von erschreckenden Bildern ausgelöst wird, so stark?

Kenner des Horror-Genres gehen vor allem von zwei Gründen aus. Zum einen ist da das Interesse am menschlichen Körper, der nirgendwo anders so intensiv ins Bild gesetzt wird wie im zeitgenössischen Horrorfilm. Zum andern die latente Botschaft von der Gewalt, die Menschen Tag für Tag angetan wird: Hier wird sie nicht unter den Teppich gekehrt. Nicht umsonst steht die Folter im Zentrum der neueren Erfolgsprodukte dieses Genres. Das Interesse an detailgenauer Darstellung physischer Gewalt lässt sich auf das wiederkehrende Interesse am Körper zurückführen, der eine Zeit lang ja durch digitale Virtualisierung der Kommunikation an Bedeutung zu verlieren schien. Der horrorfilmische Ausdruck des Exzesses geschieht auch im Dienste der physischen Materie - wenngleich im Modus der Darstellung ihrer Zerstörung. Das »anarchische Potenzial des Horrorfilms«, von dem der Marburger Medienwissenschaftler Peter Riedel spricht, kann außerdem interpretiert werden als Ausdruck einer kritischen Einstellung gegenüber der Tendenz, reale gesellschaftliche Gewalt mitsamt ihren ökonomischen und politischen Bedingungen im öffentlichen Wahrnehmungsdispositiv zu verleugnen.

Max Horkheimer hat vor 70 Jahren die »durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften« untersucht. Am Grunde des »Interesse(s) am Körper« vermutete er das ambivalente Verhältnis zur körperlichen Arbeit. Die gewaltsame Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen, die das sozial Lebensnotwendige erwirtschaften, wurde von den Profiteuren der Teilung von geistiger und körperlicher Arbeit rationalisiert: durch die mehr oder weniger fromme Lüge, dass das Körperliche minderwertiger als der Geist sei. Infolgedessen sei einerseits eine zivilisatorische »Kontrolle des Körpers« erreicht worden. Andererseits habe sich daraus eine »Hassliebe gegen den Körper« entwickelt, die kulturell tief verankert ist. Auf den Spuren von Nietzsche hat Horkheimer die Beobachtung formuliert, dass »Schrecken und Zivilisation untrennbar sind«. Das gelte nicht nur für zivilisierte Lebensformen, die durch Handel und Recht, Wissenschaft und Technik gekennzeichnet sind, sondern auch für Religion, Kunst und Philosophie: »Im Zeichen des Henkers vollzog sich die Entwicklung der Kultur.«

Alle bisherigen Formen von Kultur basieren auf Herrschaft von Menschen über Menschen. Zu ihnen gehört nicht nur Gewalt, sondern auch ihre Darstellung. Diese kann, so die Mannheimer Medienwissenschaftlerin Angela Keppler, selbst als eine Form der Gewaltausübung bezeichnet werden. Denn die strukturelle Gewalt des massenmedialen Apparats hat Macht über die Wahrnehmungsformen der Welt, der äußeren Natur, der eigenen inneren Natur und der sozialen zweiten Natur. Diese Macht wird zu einem nicht geringen Teil befestigt, indem Mediennutzer über Gewaltdarstellungen daran gebunden werden.

Gerhard Schweppenhäuser ist Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie in Würzburg.

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