Die Weltaustrittserklärung

Andrei Kontschalowskis Film »Paradies«: KZ-Massenmord, Gottesgericht und Feindbilder

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Nähme man Gott aus der Kunst, sie bräche zusammen - abgemagert auf die nackten Knochen des Vernünftigseins. Sich Gott zu schaffen, sagt Martin Walser, ist ein Talent. Nämlich: die Nichtbegreifbarkeit der Existenz zu akzeptieren, jedoch sich selber, trotz allem, sinnvoll zu wähnen. Es geht also um die Fähigkeit, im Vertrauen nicht nachzulassen. Ziel allen Glaubens. Aller Suche nach einer menschlichen Gesellschaft. Aller Kunst.

Der Film »Paradies« von Andrei Kontschalowski, der in Cannes 2016 preisgekrönt wurde und der nun, seiner aufreizenden Kühnheit gemäß, ein Dasein in kleinen Studiokinos führt, ist ein hoch religiöses, in seinem Geist tief gottbekennendes Werk. Drei Menschen geben Rechenschaft über ihr Leben im Zweiten Weltkrieg. Ein französischer Nazi-Kollaborateur, eine russische Adlige, die jüdische Kinder versteckte und deshalb verhaftet wurde (kahlgeschoren: KZ), ein junger SS-Offizier. Kahler Raum, grober Holztisch, Blicke in die Kamera. Wer befragt diese Menschen, die in ihrer jeweiligen Landessprache erzählen? Stehen sie vorm eigenen Gewissen? Nein. Denn der Franzose wurde von der Résistance beim Spaziergang erschossen, die Russin im KZ ermordet, der Deutsche kam bei der Befreiung dieses Lagers ebenfalls ums Leben. Also: ein Totengericht.

Mit elementarem, ja: Tod-Ernst behauptet der Film eine höherbefohlene Welt. Das setzt rationale Erklärungen für Faschismus und Krieg nicht außer Kraft, aber Kontschalowski misst der Kunst einen anderen Auftrag zu: Erzählung zu sein gegen den Grobianismus nur immer polit-ökonomischer Deutungen. Denn wir leben zerrissen zwischen den Fragen, die keine Geschichtsschreibung wirklich beantwortet. Gegenwartsbewirtschaftung schon gar nicht. Hier steht das unfassbar Höllische zur Rede, in das sich Menschheit verstrickt, wenn der Traum vom Paradies heruntergezerrt wird auf unser irdisches Stolpergelände. Auch Faschismus ist, in perversester Ausformung, Paradies-Anmaßung. Diese ekelhafte Sehnsucht nach dem Sauberen, dieser dreckige Rausch des Reinen.

Es scheint auf den ersten Blick ungeheuerlich, wie der Film den SS-Offizier ins Bild setzt. Dieser Helmut, der Brahms auflegt, verkörpert das durchgewalkte Klischee des kunstempfänglichen Massenmörders. Aber, und hier will einem der Atem stocken: Kontschalowski nimmt dessen Feingeist ernst. Er kann keinen Menschen beiseite schieben, der Brahms hört - auch wenn der ein SS-Mann ist. Der ins Lager geht, um Bereicherungskriminalität zu ahnden. Der Tschechow liebt, überhaupt die Russen. Der aber nach seinem Tode, vor der Kamera, unbelehrt seine Herrenmenschen-Ideologie verficht. Und der unter anderen Vorzeichen, so sagt er, vielleicht Kommunist geworden wäre. Er verehrt Stalin, denn der strebe ebenfalls ein »Paradies« an, das Eden der Werktätigen, und auch die Konsequenz des kommunistischen Plans erfordere: Ausmerzung aller Widerstände. Der rabiate SS-Offizier, den Peter Kurth gibt, fasst die Logik zusammen: »Ohne Hölle kein Paradies.« Ohne Böses nicht das Gute. Dialektik ist etwas, das weh tut. Es droht die Hölle, wenn eine Gesellschaft per Bewusstseinszurichtung ein »moralisches Ganzes« werden will, wie der Schriftsteller Hartmut Lang schrieb - wenn also negiert wird, dass »wir alles Sittliche nur immer in einer flüchtigen Form bei uns behalten können«.

Das Morden im Jahrhundert der Diktaturen war genau an jenen euphorischen Moment gekoppelt, in dem entfesselte Massen glaubten, den befreienden Sinn der Geschichte entdeckt zu haben. Utopie und Barbarei als Kompagnons. Immer wächst zusammen, was nicht zusammengehört. Mattheuers »Jahrhundertschritt«: die eine Hand zum Hitlergruß erhoben, die andere als geballte Arbeiterfaust.Unerträglich. Unerträglich wahrhaftig. Gegen diesen Schmerz wird Kontschalowskis Kunst zur Weltaustrittserklärung und sein Kamerastandpunkt: das Jenseits.

Vergleich von Systemen ist nicht automatisch Gleichsetzung. Aber eine fragende Setzung schon. Eine Frage hin zur Herzensbildung. Die muss Selbstforschung danach sein, wo man selber anfällig für irdische Erlösungsideen, also für ideologische Verhängnisse ist, und das schließt, so Thomas Mann, die selbstanklägerische »Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten« ein. Kontschalowski lässt den SS-Offizier, als der bei Himmler seine Befehle erhält, vor Ekel auf die Toilette flüchten. Er wird trotzdem diszipliniert bleiben, Parteilichkeit über alles stellen. »Wer hat ihm das bloß angetan?«, fragt Olga, und antwortet selbst: »Und was, wenn er es selbst war?« Das ist die Folter der Existenz: Beruf dich auf Gutgläubigkeit oder Zwangslagen, beschwör historische Zusammenhänge - verantwortlich für das, was du tust, bist am Ende nur du allein.

Julia Wyssozkaja wirkt als Gräfin wie eine Ikone stolzester, sogar erotisch berechnender Märtyrerkraft. Andererseits zeigt auch sie einen sehr raschen Eifer, als es um die Habseligkeiten einer toten KZ-Insassin geht. Die Wyssozkaja und Christian Clauß (als Offizier): Gesichter, die sich einbrennen. Bestürzend, wie beide im KZ einander begegnen, sich wiedererkennen und er diese Gefangene, seine einstige unerfüllte Liebe, als Haushaltshilfe zu sich nimmt. Beide betrachten Amateurfilmbilder von früher, bezaubernd idyllische Szenen aus der Toskana, vor 1933. Champagnerschönheit. So unangemessen, so schreiend zart, das Reiche und Elitäre, in dieser mörderischen Umgebung, zwischen den schwer erträglichen Lagerszenen. Das Schwarzweiß des Filmes dokumentiert gleichsam - und öffnet die Geschichte zugleich in eine elegische Strenge der Entrückung. Ermordete huschen wie gespenstische Schleierwesen.

Am heutigen Samstag wird Kontschalowski 80 Jahre alt. Seine »Romanze für Verliebte« in den Siebzigern: so naturwild, ein romantisches Epos, dass man sich einen frühlingsgrünen Platzregen wünschte, der sämtliche Fenster aufdrückt. Dann Aitmatows »Der erste Lehrer« und eine grandiose »Onkel Wanja«-Verfilmung und: »Sibiriade«, diese mitreißende Familiensaga durch nahezu hundert Jahre Russland. Auch in der DDR große Erfolge. Immer viel Schmelz, aber stets auch modern-schnittige Experimentierfreude. Für vier Filme des hermetischen Genies Andrei Tarkowski schrieb Kontschalowski die Drehbücher, auch für »Andrej Rubljow«. Der Ikonenmaler des 15. Jahrhunderts als Gleichnis auf Größe und Gebundenheit, Gier und Güte des Menschen, auf Sünde und Strafgericht. Anfang der achtziger Jahre ging der dissidentische Regisseur in die USA, gewann Preise, schlug sich aber auch durch manche Mittelmäßigkeit und kehrte 1991 mit »Der innere Kreis« nach Russland zurück. Es ist das Porträt eines kleinen Mannes, der zum Filmvorführer Stalins wird: die Versenkung eines Menschen in eine absurde Hörigkeit.

Natürlich gibt es Kritiker, die sich den theologischen Hochschwung von »Paradies« kühl vom Leib halten. Aber dem Film allein und ausweichend mit der inzwischen stark restaurativen Orthodoxie- Atmosphäre Russlands zu begründen, würde ihn ungemäß klein halten. Die Radikalität Kontschalowskis entspricht einer künstlerischen Energie, die ohne den Zorn und die Dogmatik eines landläufigen Feindbildes auskommt. Ich denke an die Novelle »Die Heiterkeit des Todes« des erwähnten Hartmut Lange: Ein SS-Mörder und eine ermordete Jüdin werden im gemeinsamen Tod zum Liebespaar, denn: Jeder Tote wartet auf die Vollkommenheit seines zertrümmerten Lebens - das aber ist eine paradiesnahe Wiederauferstehung, die ihm nur der Dichter bieten kann. Solcher Geist lebt auch in Kontschalowskis Film. So attackiert Kunst - unterm Geleitschutz zeitlicher Abstände - jenes landläufige politische Denken, das sich in Klassenfragen erschöpft.

Religiosität könnte man mit dem heilsamen Postulat übersetzen, dass nicht alles erlaubt ist. Ein Postulat gegen das Grundübel des Menschen. Er möchte alles sein und alles tun - eben weil er unvollkommen ist. Er hat Gott getötet - und irrt allein durchs All. Er ist daran verrückt geworden - und nennt es Vernunft. Er ist gefangen in Durchsetzungsreizen - und nennt es Freiheit. Er kämpft für die bessere Welt - erneut wird dabei nur Herrschaft herauskommen. Wir wollten die Fähigsten der Schöpfung sein und endeten als das Wesen, von dem es warnend heißt: Es ist zu allem fähig.

Bedrängend: Einzig Olga befragt ihr Leben kritisch, schuldbewusst, sie bricht vor der Kamera in Tränen aus, ausgerechnet sie, die zwei jüdische Kinder rettete. Zu den Gerechten zu gehören heißt eben: untröstlich zu leiden an eigener Unzulänglichkeit. Am Schluss wird diese Frau von einer Stimme im Gleißlicht besänftigt: »Du hast nichts zu fürchten.« Das ist fromm, das ist kindlich, das ist ganz Dostojewski. Das ist groß.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal