Knollen wie zu Kolumbus’ Zeiten

Der Agraringenieur Ulrich Gündel hat sich im Vogtland auf den Anbau seltener Kartoffelsorten spezialisiert

  • Steffi Schweizer
  • Lesedauer: 4 Min.

Reichenbach. Derzeit ist Ulrich Gündel jeden Tag draußen auf den Feldern vor dem sächsischen Reichenbach mit seinem Vierzack unterwegs und holt Proben. »Auf den Punkt genau« will er die Sorten ernten. Dafür misst er den Stärkegehalt in der Knolle, denn Stärke sorgt für Geschmack. - auch die Kartoffelernte ist eine Wissenschaft. Zumal dann, wenn man 140 verschiedene Sorten anbaut.

Und wer seine Knollen kennt, zu dem kommt auch das Landwirtsglück. Während der Deutsche Bauernverband dieser Tage über eine in weiten Teilen der Republik vom Wetter vermieste Ernte klagt und für den Apfelanbau bereits nach Staatshilfen ruft, hat der Kartoffelexperte aus dem Vogtland wenig Grund zur Beschwerde. Dieses Jahr hat Gündel schon früh im März einige Sorten unter Folie in die Erde gelegt. Als die Eisheiligen durch waren, hat er sie aufgedeckt. »Und da kam glei mal noch ä Regen. Do sei die gewachsen. Ja, wir hatten in diesem Jahr Glück«, erzählt er in breitem vogtländisch Dialekt.

Die ersten Kartoffeln konnte er schon Ende Juni verkosten. Darunter seine Lieblingsknolle, »La Bonnotte«, eine französische Gourmetknolle - aber auch den »Blauen Schweden«, der beim Essen blaue Finger macht, die »Rote Emmalie« oder die marmorierte »Mayan Twilight«, die er sich bei schottischen Züchtern besorgt hat. Zu jeder Sorte kann der 57-Jährige eine Geschichte erzählen, kennt er Jahreszahlen, Namen und verschiedenste Anekdoten.

Weltweit, so schätzt man, gibt es 4000 bis 5000 Kartoffelsorten. Allein in Deutschland sind 200 gelistet: ausgewählt nach Ertrag, Krankheitsresistenz, Lagerfähigkeit und Maschinengängigkeit. Im Zuge der industriellen Lebensmittelproduktion favorisieren Produzenten große glatte Knollen, die leicht zu ernten und schnell zu verarbeiten sind. Auf Geschmack wird eher weniger Wert gelegt. Seit etlichen Jahren findet aber ein Umdenken statt. Und Gündel hat das nie anders gesehen.

Der Agraringenieur mit der besonderen Hingabe zur Knolle spricht gern über Fruchtfolge und Ackerkultur. All das bringt er seinen Gästen bei Verkostungen auf unterhaltsame Art nahe. Dazu werden an langen Holztischen Schüsseln mit gelben, roten und blauen Kartoffeln gereicht. Es gibt Musik und Wein. Die Termine sind meist lange im Voraus ausgebucht.

Ulrich Gündel studierte in Halle an der Saale Pflanzenproduktion und arbeitete bei Zwickau im Feldbau. Vor 1990 war er in der LPG und später in der Genossenschaft für 1000 Hektar verantwortlich - ein Job, der ihn ausfüllte. Nach der Wende rüstete er den Kuhstall auf dem elterlichen Hof zu einem »Kulturstall« für private Familienfeiern um. Die musikalische Familie bot ein kleines Kulturprogramm, und bald klopften alte Studienfreunde an die Tür. Sie erinnerten sich an die Kartoffelverkostungen, damals im Studentenklub, abends bei einem Bier. Gündel besorgte historische Sorten und begann, die Idee aus dem Studentenklub für seinen »Kulturstall« anzupassen. 2004 fiel der Startschuss. Und 2007 meldete Junior Swen Gündel, der seine Lehre als Landwirt beendet hatte, ein Gewerbe an. Sie richteten einen Hofladen ein und begannen mit dem Internetversand. Jetzt zur Erntezeit gehen Pakete in alle Regionen Deutschlands, aber auch in die Schweiz, nach Österreich, Norwegen, Frankreich und England.

Das Vogtland spielte bei der Verbreitung der Kartoffel schon immer eine besondere Rolle. Ursprünglich in Südamerika beheimatet, kam sie Mitte des 16. Jahrhunderts mit den spanischen Kolonialherren nach Europa und wahrscheinlich über Antwerpen nach Deutschland. Vogtländische Bauern erkannten ihren Wert für die Ernährung - lange vor dem Forcierungsprogramm von Friedrich dem Großen in Brandenburg.

Besonders im Dreiländereck Böhmen, Bayern und Sachsen machten sich Bauern um ihren Anbau verdient, zum Beispiel Hans Wolf Kummerlöw aus Unterwürschnitz bei Reichenbach. Anhand alter Gerichtsakten lässt sich der Kartoffelanbau in der Gegend auf mindestens das Jahr 1647 zurückverfolgen. Vor nunmehr 370 Jahren also begann im sächsischen Vogtland der Feldanbau der Kartoffel und breitete sich nach Norden aus.

All das hat Gündel nachgelesen. Und auch in diesem Winter wird er wieder viel in Bibliotheken sitzen und in alten Katalogen längst vergessenen Sorten nachspüren. Er schreibt dann Genbanken an und fragt nach Saatgut. Von den Kanaren holte er sich vor zehn Jahren Kartoffeln, wie sie einst Kolumbus nach Europa brachte, und gewöhnte sie geduldig an das vogtländische Klima. »Jetzt haben wir hier unsere Urkartoffel,« sagt er stolz. »In Deutschland sind wir damit die einzigen.«

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