Gewerkschaftliche Wahlprüfsteine

Dierk Hirschel stellt die großen Parteien auf die Probe. Sein Fazit: Schwarz-Gelb ist für Beschäftigte nicht wählbar

  • Dierk Hirschel
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Wahlforscher haben Martin Schulz bereits angezählt. Drei Wochen vor dem großen Urnengang liegt der SPD-Chef auf den Brettern. Doch Vorsicht! Die Wahl wird erst in der letzten Runde entschieden. Jeder Zweite weiß noch nicht, wem er seine Stimme gibt.

Es geht um viel. Der Wahlausgang hat großen Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen arbeitenden Menschen. Aus gewerkschaftlicher Sicht müssen am 24. September die politischen Kräfte gestärkt werden, die für mehr soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit stehen. Dabei sind Tarifverträge, Rente und Zukunftsinvestitionen zentrale Themen.

Ein erster Wahlprüfstein ist die Neuordnung des Arbeitsmarkts. Das, was ver.di, IG Metall & Co in Tarifverhandlungen aushandeln, kommt heute bei nur noch drei von fünf Beschäftigten an. Tendenz sinkend! Weniger Tarifschutz bedeutet weniger Lohn, längere Arbeitszeiten, unsichere Jobs und mehr Ungleichheit. Die Politik kann Tarifverträge stärken. Prekäre Jobs müssen durch reguläre Arbeitsplätze ersetzt werden. Tarifverträge sollten künftig so lange nachwirken, bis ein neuer Vertrag an ihre Stelle tritt. Zudem muss die Allgemeinverbindlichkeit der Verträge so erleichtert werden, dass Arbeitgeberverbände nicht mehr blockieren können. Die Union und die FDP loben in Sonntagsreden die Tarifautonomie. Sie schlagen aber nichts vor, um Tarifverträge zu stärken. Gleichzeitig wollen sie geringfügige Beschäftigung fördern. Damit sagen CDU/CSU und FDP ja zur Erosion des Tarifsystems. Die AfD ignoriert Tarifverträge. SPD, Grüne und Linkspartei wollen die Verhandlungsmacht der Beschäftigten stärken. Sie übernehmen viele gewerkschaftliche Forderungen.

Ein zweiter Wahlprüfstein ist die Rentenpolitik. Prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne und Rentenkürzungen stürzen künftig Millionen Menschen in Altersarmut. Deswegen brauchen wir eine andere Rentenpolitik. Der Sinkflug des Rentenniveaus muss gestoppt werden, um anschließend wieder zu steigen. Ein höheres Rentenniveau allein verhindert aber keine Altersarmut. Deswegen sollten Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kindererziehung und Pflege sowie gering entlohnte Erwerbsphasen rentenrechtlich aufgewertet werden. Die gewerkschaftliche Rentenkampagne zwang die Parteien dazu, sich im Wahlkampf zu positionieren. CDU/CSU wollen bis 2030 rentenpolitisch nichts ändern. Die FDP geht mit der Altersvorsorge an die Börse. Die AfD fordert die Rente nach 45 Beitragsjahren – eine Rentenkürzung. SPD und Grüne wollen das Rentenniveau bei 48 Prozent stabilisieren. Zudem möchten sie Altersarmut mit einer gesetzlichen Solidarrente bzw. einer steuerfinanzierten Garantierente bekämpfen. Die LINKE geht mit einem Rentenniveau von 53 Prozent und einer solidarischen Mindestrente von 1050 Euro noch darüber hinaus.

Ein dritter Wahlprüfstein sind Zukunftsinvestitionen. Die öffentliche Infrastruktur ist in einem schlechten Zustand. Allein der kommunale Investitionsstau beläuft sich auf 126 Milliarden Euro. In Verkehr, Gesundheit, Bildung und Wohnungsbau muss jedes Jahr ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag investiert werden. Viele Städte und Gemeinden sind unterfinanziert. Deswegen muss die künftige Regierung entweder mit der Kreditkarte zahlen und/oder Reiche und Unternehmen höher besteuern. Alle Parteien wollen in Bildung, Digitalisierung, Verkehr und Forschung investieren. Die Union will auch mehr Geld in Rüstung stecken, SPD, Grüne und Linkspartei in Wohnungsbau, Gesundheit und Soziales. Fast alle Parteien – Ausnahme ist das Steuerkonzept der LINKEN – können aber die großen Investitionsbedarfe nicht gegenfinanzieren. Folglich backen sie kleinere Brötchen. Die SPD will nur die Überschüsse des Bundeshaushalts – 7,5 Milliarden Euro pro Jahr – investieren. Die Grünen kratzen jährlich zwölf Milliarden Euro zusammen. CDU/CSU und FDP schwächen hingegen die staatliche Handlungsfähigkeit durch milliardenschwere Steuergeschenke. Die AfD setzt den Staat auf Zwangsdiät.

Vor der Wahl ergibt sich ein klares Bild: Das bürgerliche Lager will keine arbeitnehmerorientierte Politik. Unter Schwarz-Gelb drohen uns mehr prekäre Jobs, mehr Altersarmut und ein größerer Investitionsstau. Die AfD gehört als arbeitnehmer- und fremdenfeindliche Partei nicht ins Parlament. SPD, Grüne und Linkspartei werben hingegen bei Tarifverträgen, Rente und Investitionen für eine Politik, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit führen kann. Das sind gute Gründe, die Wahlforscher in drei Wochen Lügen zu strafen.

Dierk Hirschel leitet die Wirtschaftspolitik bei ver.di.

Über die Wahl wird viel gesprochen - das allein ändert noch nicht die Verhältnisse. Wir schlagen im Wahlkampf eine Schneise in die Schwafelei. Lesen Sie mit auf unserer Spezialseite zur Bundestagswahl 2017​

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