Glück wünschen reicht nicht aus

Die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (LINKE) will ihren Wahlkreis deutlich gewinnen

Fünf Frauen, zwei Männer und sieben junge Mädchen stellen sich am Donnerstagabend ohne Ankündigung in der gläsernen Reichstagskuppel auf und stimmen einen Kanon an. Olaf Ruhl dirigiert und alle singen: »Dona nobis pacem« (Gib uns Frieden). Nicht alle, aber doch viele Touristen bleiben auf dem charakteristischen Wandelgang der Kuppel stehen und hören ergriffen zu. Am Ende hebt erst ein Jugendlicher die Arme hoch über den Kopf und applaudiert, dann klatschen auch andere Touristen, und einer pfeift begeistert, als würde er bei einem Rockkonzert eine Zugabe fordern. Es erklingt auch wirklich noch ein jiddisches Lied mit der Textzeile »Friede soll sein auf der ganzen Welt«.

Schon seit zwei Wochen ist die Berliner Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (LINKE) früh und nachmittags an Infoständen in ihrem Wahlkreis Lichtenberg zu finden, abends oft bei Diskussionsrunden mit den Direktkandidaten der anderen Parteien. Am 24. September ist bekanntlich Bundestagswahl. Der Kampf um die Stimmen der Bürger läuft auf Hochtouren.

Doch für diesen einen Termin hat sich Lötzsch aus der Kampagne ausgeklinkt. Zu Besuch bei ihr im Bundestag sind Chorsänger aus ihrem Bezirk. Schon zum zwölften Mal hatte es im Juli den Lichtenberger Chorsommer gegeben - diesmal erneut im Kulturhaus Karlshorst. Anfangs hatte das Bezirksamt die Veranstaltungsreihe finanziell gefördert. Inzwischen organisiert der Verein »Gemeinsam in Lichtenberg« das Ereignis. Gesine Lötzsch ist die Vereinsvorsitzende. Als kleines Dankeschön hat sie bereits im vergangenen Jahr Sänger zur Besichtigung in den Bundestag eingeladen. Auch damals wurde in der Kuppel gesungen, die eine gute Akustik aufweist.

Nun ist es wieder so weit. Gekommen sind Sänger des Khaloymes-Chors und von den Canzonetta-Chören. Khaloymes sei die jiddische Aussprache des hebräischen Wortes für Träume, erläutert Chorleiter Olaf Ruhl. Drei kleine Jungs sind auch dabei, einer mit seiner Schulmappe. Während die Mütter singen, toben die Jungs vergnügt durch die Reichstagskuppel. Ein Rundgang gehört zum Programm. Gesine Lötzsch zeigt eine als Raucherraum genutzte Bar, in der doch tatsächlich, unter den unzähligen Gemälden eines russischen Künstlers, Porträts von Stalin und Lenin zu sehen sind. Lötzsch erklärt auch die erhaltenen kyrillischen Inschriften sowjetischer Soldaten aus der Zeit der Befreiung Berlins vom Faschismus. »Sdjes byl Iwan« (hier war Iwan), steht dort beispielsweise.

In dem Sitzungssaal, den die Linksfraktion auf den Namen der Frauenrechtlerin und KPD-Reichstagsabgeordneten Clara Zetkin taufte, berichtet Lötzsch, sie sei die Vorsitzende des Haushaltsausschusses. Sie hebt dazu ihre Tasche hoch und verrät: »Hier ist der Bundeshaushalt drin, rund 328 Milliarden Euro. Ich passe gut darauf auf.« Leider habe sie als Vorsitzende im Ausschuss nur eine Stimme, genauso wie die anderen Abgeordneten. Wenn sie bestimmen könnte, wie die Mittel verteilt werden, dann würde sie kein Geld für die Rüstung ausgeben und mehr Geld für Kinder, versichert Lötzsch.

Nach dem Chorsingen verabschiedet sich die 56-Jährige von ihren Besuchern und läuft einen unterirdischen Gang zu ihrem Büro im Paul-Löbe-Haus. Bei einer Flasche Wein - ein trockener Weißburgunder aus dem Saale-Unstrut-Gebiet, spendiert von ihrem Fraktionskollegen Roland Claus - erklärt Gesine Lötzsch dem »nd«, dass sie ihren Wahlkreis an diesem Sonntag wieder mit deutlichem Vorsprung gewinnen möchte. Bei der Bundestagswahl 2013 hatte sie 40,3 Prozent der Erststimmen erhalten. Martin Pätzold (CDU) kam als Zweitplatzierter damals nur auf 22,7 Prozent. Zwar wäre sie durch ihren Platz drei auf der Landesliste abgesichert und würde so oder so wieder in den Bundestag einziehen. Aber: »Ich habe den Wahlkreis vier Mal gewonnen. Ich trete doch nicht an, um ihn jetzt zu verlieren.«

Prognosen verheißen der LINKEN vier Wahlkreise in Berlin und einen in Brandenburg, mit Glück zusätzlich noch je einen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Dergleichen Prophezeiungen sind aber mit Vorsicht zu genießen. Als absolut sicher gelten nur die Hochburgen Lichtenberg und Marzahn-Hellerdorf, wo Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (LINKE) antritt. Zu viel Selbstsicherheit wäre allerdings gefährlich, warnt Lötzsch. Auch hier gelte es, um jede einzelne Stimme zu kämpfen.

In Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf haben ununterbrochen seit 1994 immer Sozialisten die Nase vorn behalten. Nirgendwo anders ist dies gelungen. »Das hat eine hohe symbolische Bedeutung. Daraus erwächst für Petra Pau und mich eine große Verantwortung. Wir sind uns dessen bewusst«, betont Lötzsch. »Mir Glück zu wünschen, reicht nicht. Man muss mich auch ankreuzen«, unterstreicht sie.

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