Die Reise nach dem Sturm

Slava Wagner über eine dreistündige Odyssee

  • Lesedauer: 2 Min.

Wird halt ein bisschen windig. Ist ja kein Weltuntergang, dachte ich noch Donnerstagfrüh. Um 17 Uhr, als ich nach Hause aufbrechen wollte, bemitleiden mich meine Kollegen, weil ich nach Potsdam muss. Mit der Bahn. Da ist der Verkehr erst ein paar Minuten eingestellt.

Sogar die Hoffnung, irgendwie mit Bussen durchzukommen, ist trügerisch. Die fahren ebenfalls nicht. Im Internet heißt es, dass auch Potsdam stillsteht. Großartig.

Ich hab ja noch eine Alternative in Königs Wusterhausen. Mein Vater will mich mit dem Auto in Tegel einsammeln, auf dem Weg von der Arbeit.

Um überhaupt noch irgendwann, irgendwo anzukommen, will ich per U-Bahn zum Kurt-Schumacher-Platz fahren. Von der Weberwiese am Alexanderplatz angekommen wird klar: das U-Bahnfahren an besagtem Abend wird vielen Berlinern lange im Gedächtnis bleiben. Die gesamte Stadt ist damit unterwegs, denn sonst fährt ja nichts.

Am Alex stauen sich bereits gewaltige Massen gestrandeter und telefonierender Passagiere. Wie in einem Endzeitfilm versuchen sie, Angehörige zu erreichen. Nur, dass es keine Endzeit ist, sondern ein starker Sturm.

Das Highlight ist der Umstieg von der U2 in die U6 in Stadtmitte: ein scheinbar regungsloser Pfropfen von gefühlt über 1000 Menschen. Pattsituation. Keiner kommt rein, keiner kommt raus. Nach einer reichlichen Viertelstunde bin ich zum Zug durchgedrungen. Der hat natürlich eine Riesenverspätung. Denn an jedem Bahnhof braucht es mehrere Versuche, bis die Türen endlich geschlossen werden können. Bei jedem Halt bleibt die Hälfte der Mitfahrwilligen draußen, und jeder versucht, noch einen letzten Platz im völlig überfüllten Zug zu bekommen. Es erinnert an Tokio. Oder die Titanic: Jeder will noch ins Rettungsboot. Doch nicht jeder kommt hinein. Nur, dass das nicht der Untergang der Titanic ist. Sondern Berlin mit Wind.

Gegen halb acht komme ich dann auch am Kurt-Schumacher-Platz an, und fahre mit meinem Vater etwa weitere 70 Minuten nach Königs Wusterhausen. Nach drei Stunden Odyssee am Ziel. Der Regionalexpress braucht normalerweise 24 Minuten.

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