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Jeder weiß, was sich nachts in den Wäldern herumtreibt

Daniel Kehlmann versetzt Tyll Ulenspiegel in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und erweist sich wieder einmal als deutscher Meister des magischen Realismus

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer was werden will, der sollte wissen, was auf dem Grund seiner Existenz liegt. Das ist vor allem dann wichtig, wenn »was werden« etwas anderes meint als Unternehmensberater, Immobilienmakler oder Investmentbanker. »Was werden«, das kann jenseits der steigerungsgetriebenen Moderne bedeuten, eine Antwortbeziehung zur Welt einzugehen. Es heißt nicht, noch mehr Einkommen, noch mehr Arbeit, noch mehr Glück zu suchen, sondern ans Eingemachte zu gehen: Warum bin ich hier? Und wie soll ich die kurze Zeit meines Lebens verbringen?

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman.
Rowohlt, 480 S., geb., 22,95 €

Die Fragen sind zeitlos gültig, und darum kann auch ein Vagant und Spaßmacher aus dem 17. Jahrhundert mal eben beschließen, niemals zu sterben. Tyll Ulenspiegel, der inmitten des Dreißigjährigen Krieges geboren wird und aufwächst, will sich nicht mit den profanen Problemen seiner Familie beschäftigen. Seine Mutter, die ewig lamentierende Müllerin Agneta, mag schon wieder ein Kind verloren haben, aber Tyll bringt sich lieber die Kunst des Seiltanzes bei. Sein Vater, der kluge Müller Claus, mag viel Plackerei an die Knechte und den Sohn zu delegieren haben, aber das Wispern aus dem Wald lockt Tyll in die Fremde. Er will das kriegsverheerte Land entdecken.

Über diesen neuen Roman von Daniel Kehlmann sprach der Literaturbetrieb schon Monate vor dessen Erscheinen. Das lag in erster Linie daran, dass der deutsch-österreichische Schriftsteller seit seinem Megabestseller »Die Vermessung der Welt« von 2005 die durch den Erfolg gewonnene künstlerische Unabhängigkeit nutzte. Jahrelang experimentierte er mit Formen und Genres, ohne einen weiteren ganz großen Wurf zu landen.

Das, so munkelten manche, könnte sich mit »Tyll« ändern. Kehlmanns Verlag dürfte das ungeduldige Füßescharren der literarischen Welt mit Vergnügen beobachtet haben. Während der Rummel um Shortlist und Longlist des Deutschen Buchpreises vonstatten ging, spielte Rowohlt mit den Erwartungen. Ist »Tyll« etwa so herausragend, dass dessen Erscheinen auf den 11. Oktober terminiert werden musste, damit er gar nicht erst für den zwei Tage zuvor vergebenen Deutschen Buchpreis in Frage kommt und die Debattenarena rund um die Literatur nach diesem Brimborium für sich hat?

Zweimal war Kehlmann bereits für den Buchpreis nominiert, 2005 mit der erwähnten »Vermessung der Welt« und 2013 mit »F«. Er hat es längst nicht mehr nötig, sich am Auswahlspiel zu beteiligen. Seine ablehnende Haltung zu dieser medial viel beachteten Prosa-Auszeichnung ist seit 2008 bekannt. Damals schrieb er in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«: »Ein solches Spektakel mag die Umsätze des Buchhandels erhöhen, für die Literatur ist es bedauerlich und für die Schriftsteller, die ja niemand gefragt hat, ob sie sich einer solchen Prozedur unterwerfen möchten, eine Quelle der Sorge und der Depression.«

Wer nicht auf der zwanzig Titel umfassenden Langliste auftauche, der werde in den großen Feuilletons nicht beachtet. Die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergebene Prämierung erzeuge außerdem Konkurrenz, wo sie überhaupt keinen Sinn ergebe: »Mag ein Buch auch epochal gelungen sein - ist sein Autor nicht bereit, Beruhigungsmittel zu schlucken und gewissermaßen körperlich zum Wettkampf anzutreten, wird er den Preis nicht bekommen.«

Chemische Beruhigungsmittel gab es im 17. Jahrhundert noch nicht. Kehlmanns Titelheld braucht sie auch gar nicht, denn der entzieht sich jedem Wettbewerb, jeder Rivalität und jeder Gegnerschaft. Tyll Ulenspiegel, das soll tatsächlich jener umherschweifende Schalk sein, der im kulturellen Gedächtnis als Till Eulenspiegel verankert ist. Nur, dass die Figur mit Schellenkappe und Handspiegel im 14. Jahrhundert gelebt haben soll. Ob Kehlmann nun einen Nachahmer kreiert oder aber die Gestalt wirklich um dreihundert Jahre versetzt hat, er nutzt Brechts Prinzip der Verfremdung und schützt seine Geschichte damit vor der Musealisierung.

Er haucht ihr die Anmutung einer Parabel ein. »Tyll« ist ein glänzend geschriebenes literarisches Erlebnis, das ein plausibles Bild des der frühen Neuzeit zeichnet und trotzdem nicht im Gewand eines Gewaltpornos erscheinen muss.

Kehlmann setzt Perspektiv- und Tempuswechsel ein, um die sprachliche Eleganz des Textes zu erhalten und um die inhaltliche Aufmerksamkeit auf jenes Wesentliche zu lenken, das für das rasch lesende Auge sonst unsichtbar bleiben könnte. Während Tyll sich aus dem Staub macht, um zu zaubern, um zu gaukeln und um Tod und Sterben zu entsagen, sitzt sein Vater im Kerker, wartend auf seine Hinrichtung. Die Kirche hat ihn als Hexer verhaften lassen, weil er sich für Naturheilkunde interessiert. Während des letzten Mahls tritt plötzlich der Henker als grundsympathischer, weil melancholischer Kerl auf, und dieser Roman präsentiert in lebendigster Manier auf engem Raum, warum selbst in finsteren Zeiten immer auch empfindsame Menschen und niemals seelenlose Monster am Werke sind.

Tyll nimmt die Bäckerstochter Nele und den sprechenden Esel Origenes mit ins Unbekannte. Sie schließen sich erst dem großherzigen, aber dilettantischen Bänkelsänger Gottfried an und dann dem arglistigen, aber genialen Zirkusmann Pirmin. Irgendwann trennen sich ihre Wege, weil Nele einen Edelmann heiratet und Tyll sich als Hofnarr verdingen möchte. Beim exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen erlebt er die Dekadenz, den Realitätsverlust und die politische Abgezocktheit der Eliten, die auch manche Eskalation heutiger Gesellschaften erklären könnten. Tyll fühlt sich in diesen Gefilden relativ sicher, er muss selten hungern und er genießt seine Narrenfreiheit, indem er seinen Herrn mit herrlichen Beschimpfungen bombardiert.

Tyll läuft immer gerade rechtzeitig aller Unbill davon. Er liefert sich lieber der Ungewissheit des Weitläufigen aus, als zu lange im Gefahrenkessel zu brodeln. »Jeder weiß, was sich nachts in den Wäldern herumtreibt«, sagt der Erzähler an einer Stelle. Ja, da mögen ständig Zischen und Flüstern und Knurren erklingen. Aber das allerschlimmste Gespenst kann kaum unheimlicher sein als die alltägliche Unvernunft und Empathielosigkeit, in die menschengemachte Umstände die Leute viel zu oft treiben.

Im Anfangskapitel zieht Tyll in eine Stadt ein und balanciert auf einem Seil. Hoch oben fordert er jeden aus der ihn bewundernden Menge auf, den rechten Schuh auszuziehen und ihn wahllos wegzuwerfen. Dann soll jeder sein Fußkleid wieder aufheben. Wie ein Fieber greift die Wut um sich. Jeder bezichtigt und prügelt den anderen. Es regiert das Chaos, dem Tyll mit Genugtuung entflieht. Ein Jahr später kommt der Krieg, fast niemand bleibt am Leben. Dieses eine Mädchen, das Tyll mitnehmen wollte, bereut erst jetzt seine Absage und stirbt.

»Was Besseres als den Tod findest du überall«, hatte Tyll ihm mitgeteilt. Wer weiß, dass irre Superreiche im Silicon Valley heutzutage den Menschen und den Tod überwinden wollen, dem wird die Sehnsucht nach dem ewigen Leben nicht mehr mittelalterlich oder gar lächerlich vorkommen. »Tyll« ist nicht nur ein Schmuckstück des in der deutschsprachigen Literatur unterrepräsentierten magischen Realismus, sondern erteilt einem auch eine Lektion in Demut vor den kommenden sozialen und technischen Errungenschaften.

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