Der Karl und der Marx

Jürgen Neffe und Gareth Stedman Jones porträtieren den großen Philosophen aus Trier

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor 150 Jahren erschien der erste Band des Hauptwerks von Karl Marx, »Das Kapital«. Aus diesem Anlass und im Hinblick auf den bevorstehenden 200. Geburtstag des Philosophen, dem die Krise des globalen Finanzkapitalismus zu einem Comeback verholfen hat, sind jüngst mehrere Bücher über sein politisches wie theoretisches Erbe erschienen. Auf der Frankfurter Buchmesse werden nun auch zwei neue, voluminöse Biografien präsentiert. Beide nehmen Marx sowohl gegen seine Gegner, die ihn noch immer verdammen und verteufeln, in Schutz, aber auch gegen die ihn verklärenden und verfälschenden Anhänger. Beide Biografen versuchen, Leben und Werk ihres Protagonisten aus seiner Zeit heraus zu verstehen und zugleich den aktuellen Gehalt seiner Gedanken aufzuspüren. Trotz dieser Gemeinsamkeiten widersprechen sich beide Biografien teilweise überraschend.

Jürgen Neffe ist Naturwissenschaftler und ein sprachlich begnadeter Publizist. Seine Porträts über Einstein und Darwin wurden international hoch gelobt. Seine Marx-Biografie, die das Epitheton »Der Unvollendete« ziert, ist ein intellektuelles Lesevergnügen. Neffe bewundert Marx regelrecht, kritisiert ihn aber auch, so hinsichtlich Äußerungen, die heute als antisemitisch gelten. Der das Center for History and Economics an der Universität von Cambridge leitende Gareth Stedman Jones hingegen setzt eher theoretisch an, berichtet von den oft durch Zeitdruck und materielle Bedrängnis eingeengten »Produktionsbedingungen« der Marx’schen Werke. Beide Autoren widmen der Partnerschaft mit dem wie ein Mäzen wirkenden Friedrich Engels angemessenen Raum.

Als für heute besonders aktuell sieht Neffe die in der »Deutschen Ideologie« formulierte Feststellung an, den Menschen seien »die Ausgeburten ihres Kopfes über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt.« Wer wollte bestreiten, dass diese Aussage angesichts menschlicher Schuld an der Klimakatastrophe oder der noch ungewissen Folgen der biotechnischen Revolution auch unsere Generation betrifft? Neffe misst den frühen Schriften von Marx eine gleichberechtigte Bedeutung neben dessen Hauptwerk zu und betont die konsequente freiheitliche und humanistische Grundtendenz. Stedman Jones beschäftigt sich eingehender mit den ökonomischen Erkenntnissen von Marx. Die Behauptung ihrer Fortgeltung im wortgetreuen Sinne sei jedoch einer der großen Irrtümer jener, die sich starr auf Marx beriefen. Erstaunlich ist, welche Bedeutung der Cambridge-Direktor einem Brief von 1881 beimisst, in dem Marx der russischen Gruppe »Befreiung der Arbeit« (zu der u. a. der junge Lenin gehörte) nahelegte, die Dorfgemeinde als Ausgangspunkt für ihren revolutionären Kampf zu wählen.

Während Neffe die Bedeutung von Marx für das 21. Jahrhundert betont, befindet Stedman Jones, »dass den Marx, wie ihn das 20. Jahrhundert schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, nur eine zufällige Ähnlichkeit verbindet«. Beide Biografen widmen ihre Aufmerksamkeit auch dem Widerspruch, dass Marx »Das Kapital« schreiben, aber mit Geld nicht umgehen konnte. Beide berichten von der wirtschaftlichen Not der Familie Marx. Die publizistischen Arbeiten brachten nicht viel ein. Seine Bücher verkauften sich zu Lebzeiten schlecht.

Erst als sozialdemokratische und andere Arbeiterparteien seine Werke massiv verbreiteten, entstand ein Milieu, das die in New York erschienene sozialistische Zeitschrift »The New Review« 1914 wie folgt beschrieb: »Die Geradlinigkeit eines Genossen konnte ausnahmslos an den Eselsohren des Manifests gemessen werden.« Gemeint ist das »Kommunistische Manifest« von 1848, an dem Jürgen Neffe die hohe schriftstellerische Qualität von Marx festmacht.

Welcher der beiden Biografien gebührt der Vorzug? Stedman Jones schreibt stets von »Karl«, als ob es sich bei dem von ihm porträtierten um einen Freund und alten Genossen handelt. Neffe spricht distanzierter immer von »Marx«, obwohl dieser ihm näher zu stehen scheint als dem Briten. Liest man beide, hat man vielleicht den ganzen Karl Marx - zusammen für nur 60 Euro.

Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete. C. Bertelsmann, 656 S., geb., 28 €.

Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. S. Fischer, 891 S., geb., 32 €.

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