Klammheimliche Freude, exotische Vorschläge

Der »Deutsche Herbst« des Jahres 1977 markierte den Übergang zu einem starken Staat neuen Typs. Die Ursache des Niedergangs der radikalen Linken war er nicht.

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 6 Min.

Es war Anfang Mai, die Ernst-Merck-Halle in Hamburg war voller Menschen, die inbrünstig »vorn im Kampf, wo der Tod lacht, wo das Volk Schluss mit der Not macht« mitsangen, doch ich langweilte mich. Die romantische Idee des revolutionären Fighters fand ich durchaus anziehend, aber das Pathos, mit dem Wolf Biermann »Comandante Che Guevara« und anderes erbauliches Liedgut intonierte, fiel mir auf die Nerven. Wozu gab es E-Gitarren und Schlagzeuge? Jüngst hatte ich den Punkrock entdeckt, doch den hatten der Kommunistische Bund und andere linke Organisationen, die zu den Veranstaltern gehörten, leider ohne große Sachkenntnis unter Faschismusverdacht gestellt.

Einige Anhänger der RAF retteten den Abend. Sie legten mehrere Stapel mit Kommandoerklärungen zum Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der am 7. April erschossen worden war, auf die Tische. Sofort schnappte ich mir zwei Dutzend davon, nicht, weil ich Werbung für die RAF machen wollte, sondern weil ich eine erstklassige Gelegenheit witterte, meine »street credibility« mit Hilfe dieser gewissermaßen direkt aus dem Guerilla-Untergrund kommenden, mit einem dekorativen RAF-Stern versehenen Flugblätter immens zu steigern. Ich musste ja niemandem erzählen, dass sie auf recht banale Weise in meinen Besitz gekommen waren.

Die Zahl der radikalen Linken, die Anhänger der RAF waren, war immer sehr gering. Es bedurfte schon einigen Insiderwissens, um deren Erklärungen überhaupt zu verstehen. Überdies wurde selbst unter jenen, die den bewaffneten Kampf für legitim hielten, die mit der Ermordung Bubacks eingeleitete »Offensive 77« aus politischen und moralischen Gründen kritisiert. »Den Bullen, der uns laufen lässt, lassen wir auch laufen«, hatte die RAF 1971 geschrieben. Davon konnte nun keine Rede mehr sein. Zudem war die anfangs propagierte Verbindung der »Stadtguerilla« mit Klassenkämpfen und sozialen Protesten einer Haltung gewichen, die auf einen Privatkrieg mit dem Staat hinauslief. »Wir werden verhindern, dass unsere fighter in westdeutschen gefängnissen ermordet werden«, hieß es im Bekennerschreiben zum Attentat auf Buback.

Im April hatte sich ein Göttinger Linksradikaler unter dem Pseudonym »Mescalero« kritisch mit linken Gewaltfantasien, auch seinen eigenen, auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen: »Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: zur Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.« Der »Mescalero« hatte seine anfänglich »klammheimliche Freude« über das Attentat aber nicht verhehlen wollen, auf dieser dürftigen Grundlage wurde der Text kriminalisiert und jeder Versuch, ihn zu publizieren, verfolgt. Als 47 Professoren ihn dokumentierten, belehrte sie der niedersächsische Innenminister Eduard Pestel (CDU) über die »besondere Treuepflicht« von Beamten, die mehr erfordere »als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung«.

Der »Deutsche Herbst« begann bereits im Frühjahr. Aus staatlicher Sicht ein Sympathisant der RAF zu sein, war nicht schwer. Es genügte, sich der von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) geforderten »äußerlich sichtbaren und hörbaren Identifizierung« mit dem Staat zu verweigern, Fahndungsmethoden, Haftbedingungen oder Gesetzesverschärfungen zu kritisieren, die Motive der RAF zu diskutieren oder sie auch nur so zu nennen. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) meinte, Sympathisant »kann schon sein, wer Baader-Meinhof-Gruppe statt Bande sagt«.

Nach der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September wurden nicht allein die Töne noch schriller, es wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, der Presse und der Politik nun offen diskutiert, ob die RAF-Gefangenen ihrerseits als Geiseln behandelt werden sollten. Im Krisenstab bat Schmidt um »exotische Vorschläge«, der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß brachte die Idee ins Gespräch, für jede getötete Geisel einen RAF-Häftling zu erschießen. In der ARD-Sendung »Panorama« sagte der rechtskonservative Publizist Golo Mann: »Der Moment kann kommen, in dem man jene wegen Mordes verurteilten Terroristen, die man in sicherem Gewahrsam hat, in Geiseln wird verwandeln müssen, indem man sie den Gesetzen des Friedens entzieht und unter Kriegsrecht stellt.«

Da musste man nicht linksradikal sein, um der offiziellen Erklärung, die vier RAF-Gefangenen hätten sich in der Nacht zum 18. Oktober selbst getötet, zu misstrauen. Wahrscheinlich ist Schmidt tatsächlich nur, wie er selbst bekundete, »bis an die Grenzen dessen, was im demokratischen Rechtsstaat gerade noch möglich ist« gegangen. Dafür sprechen Aussagen aus dem engeren Umfeld der RAF-Gefangenen, zudem wäre ein Mordkomplott mit Dutzenden Mitwissern ein Risiko gewesen, das Schmidt wohl nicht eingegangen wäre - vor allem mit Rücksicht auf das europäische Ausland.

Dort waren die Zweifel am Suizid sehr weit verbreitet. Bereits zuvor hatte die westeuropäische Presse misstrauische Fragen gestellt: Wie stabil konnte die deutsche Demokratie sein, wenn man dort so hysterisch auf die Aktionen einer winzigen Gruppe reagierte? Waren die unzähligen Nazis, die hohe Positionen in Politik und Wirtschaft bekleideten, wirklich hinreichend domestiziert worden? Es war ja bezeichnend, dass Golo Mann das Kriegsrecht, das die Ermordung von Gefangenen eindeutig verbietet, mit größter Selbstverständlichkeit nach Art der Nazis deutete. Es war in CDU und CSU noch selbstverständlich, stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg zu sein. Die SPD propagierte mit dem »Modell Deutschland« einen moderneren Nationalismus, setzte aber ebenso auf eine autoritäre Politik. Die Sorge um die Demokratie war daher keineswegs unbegründet. Auch in der Bevölkerung zeigte sich, ermuntert von der damals noch viel einflussreicheren »Bild«-Zeitung, wie dünn der Firnis postnazistischer Zivilisierung war.

»Zur Zeit von Mogadishu gab es einmal eine kurze Phase, in der unsereiner Angst kriegen konnte«, sagte Peter Brückner - der einzige der 47 Professoren, der sich nicht von der Dokumentation des »Mescalero«-Textes distanzierte hatte und deshalb suspendiert worden war - 1981 in einem Interview, doch der Versuch, die Bevölkerung »an ›unseren Staat‹ zu binden, hat offensichtlich nicht funktioniert«. Der »Deutsche Herbst« markiert jedoch das Ende der sozialdemokratischen Reformphase und den Übergang zu einem starken Staat neuen Typs.

Zur von vielen Linken befürchteten »Faschisierung« kam es nicht, vielmehr wurde die NS-Nostalgie in den folgenden Jahrzehnten auch in der CDU/CSU zurückgedrängt. Das »Modell Deutschland« basiert auf ökonomischer Stärke und auf einem patriotischen Konformismus, der damals exemplarisch erprobt und weniger gewaltsam durchgesetzt als bereitwillig angenommen wurde - alle Medien schwiegen über Schleyers NS-Vergangenheit. Die liberale Gegenöffentlichkeit verschwand.

Doch so gespenstisch der »Deutsche Herbst« mit seiner Hetze und allgegenwärtig wirkenden Polizeipräsenz war - die Repression blieb ein selektiv zur Einschüchterung angewandtes Mittel. Die bereits von »Mescalero« geäußerte Kritik flammte nach der Ermordung Schleyers wieder auf, auch die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs »Landshut« nach Mogadischu galt fast allen Linken zumindest als politischer Fehler. In der noch fast durchgängig antiisraelischen Linken wurde die Zusammenarbeit mit palästinensischen Terroristen jedoch nicht problematisiert. Die radikale Linke erholte sich relativ schnell und erlebte Anfang der 80er Jahre einen neuen Aufschwung. Ihr Niedergang war keine Folge der Repression, sondern sozialer Veränderungen und nicht zuletzt eigener Fehler, vor allem eines Dogmatismus, der viel zu lange an machistischen Revolutionsmythen und antiimperialistischem Wahn festhielt - und teils bis heute festhält.

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