Viel Arbeit mit dem Marx

Ab Donnerstag findet zum zehnten Mal die Marx-Herbstschule in Berlin statt

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

»Man merkt, dass dieses Jahr ein Jubiläumsjahr ist«, sagt Frank Engster vom Verein Helle Panke in Berlin. Hätten sich in früheren Jahren zur Marx-Herbstschule immer um die 150 Menschen angemeldet, so seien es dieses Mal, 150 Jahre nach dem Erscheinen des »Kapital«, doppelt so viele. Selbst aus Indien und Palästina kämen Teilnehmer, so Engster.

Seit 2008 organisiert die Helle Panke zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition und der Gruppe T.O.P.-Berlin und dem UmsGanze! Bündnis jährlich die Marx-Herbstschule. »Früher war auch noch die Marx-Gesellschaft dabei, die aufgrund von Nachwuchsmangel leider aufgelöst wurde«, berichtet Engster. Trotz dieses Rückschlags sei die Herbstschule jedoch eine Erfolgsgeschichte. Denn dass ab diesen Donnerstag bis Sonntag die zehnte Tagung dieser Art in Berlin stattfindet, sei in der linken Theorieszene, wo man sich schnell streite und spalte, nicht selbstverständlich. Stattdessen wurde zusätzlich zu den Veranstaltungen am Jahresende bereits dreimal von kritischen Juristen eine Marx-Frühjahrsschule veranstaltet. Und in Berlin ist mit diversen Lesekursen schon eine kleine Marx-Szene entstanden, eine Art kleiner »Ausbildungsbetrieb für angehende Marxisten«.

Unter den Gästen der Herbstschulen sind Nerds wie auch absolute Laien die Minderheit, erzählt Engster. Die meisten Besucher haben irgendwann mal in den ersten Band von »Das Kapital« geschaut. Doch die wenigsten haben ihn oder gar die gesamten drei Bände, von denen Marx lediglich den ersten selbst herausbrachte, durchstudiert.

»Es hat nie krasse Kontroversen oder Streits gegeben«, sagt Organisator Engster. Vielleicht sei dies ein Zeichen der Schwäche der einzelnen Marx-Schulen gewesen, vielleicht aber auch eines der Stärke: »Es gibt nämlich nicht den einen Marx.« Wie bei klassischen Autoren üblich, seien die Texte von Marx offen für unterschiedliche, sich teils widersprechende Interpretationen. »Da unterscheidet sich Marx nicht von Hegel oder Heidegger.«

Und so werden gleich zum Auftakt der diesjährigen Marx-Herbstschule am Donnerstagabend im Kreuzberger Bethanien Vertreter dreier seit 1968 entstandener Marx-Schulen miteinander diskutieren: Der Philosoph Frieder-Otto Wolf wird die in Frankreich entstandene strukturale Lesart vertreten, Renate Mohl die im Umfeld der Frankfurter Schule entstandene formanalytisch-werttheoretische und Sergio Bologna aus Padua die italienische Lesart der Operaisten.

Ursprünglich angetreten, erzählt Engster, sei die Herbstschule mit dem Anspruch, die Lücke zu schließen zwischen den ganzen Experten, die schon Bücher über Marx geschrieben hatten, und interessierten Laien. Es war die Zeit, als nach der Pleite von Lehman Brothers Banken mit Milliarden vor dem Zusammenbruch gerettet wurden und selbst in konservativen Zeitungen gefragt wurde, ob Marx mit seinen Aussagen über den Kapitalismus recht gehabt hatte. »Damals wollten die Menschen vor allem wissen, was Marx über Krisen, Kredite oder die Finanzwirtschaft schrieb«, so Engster. Heutzutage wollten Besucher auch viel über andere Themen hören.

Dieses Jahr haben die Organisatoren das Thema Arbeit in den Mittelpunkt der Herbstschule gestellt. Schließlich ist dies ein Begriff, der sich durch das ganze »Kapital« zieht: So fängt das Werk damit an, dass Marx den im Kapitalismus alles bestimmenden Tauschwert als die in den Waren vergegenständlichte Arbeit bezeichnet. Dann führt Marx die Mehrarbeit als Quelle jeglichen Profits ein und endet im ersten Band mit der Nacherzählung, wie sich im Rahmen der sogenannten ursprünglichen Akkumulation eine ganze Klasse von Menschen herausbildete, denen nur noch die eigene Arbeitskraft geblieben ist, die sie nun zum Überleben an die Fabrikbesitzer verkaufen müssen.

»Die ganzen Mainstream-Wissenschaftler, die jetzt dicke Bücher über Marx schreiben, haben ganz offensichtlich die Diskussion seit Ende der 60er Jahre nicht mitbekommen«, sagt Engster, der über Marx’ Ansichten über das Geld promoviert hat. »Als ob er einfach die Arbeitswertlehre von David Riccardo übernommen und radikalisiert hat.« Also, als ob die Arbeit des Bäckers genauso im Brötchen vergegenständlicht sei wie das Mehl. Dies sei die »substantialistische« Lesart der Arbeitswerttheorie von Marx, so Engster. Es sei zwar die traditionelle Lesart, die Marx auch an einigen Stellen nahelege, doch angesichts neuester Erkenntnisse sei sie nicht mehr haltbar.

Ganz so einfach ist Marx dann doch nicht zu verstehen. Und eben deswegen gibt es die Herbstschule.

Weitere Informationen unter marxherbstschule.net

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