Das Glück, dieses Missverständnis

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin: »Christa T.« und »Störfall« von Christa Wolf

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Luftige begegnet dem Unheimlichen. Das heiter Feingesponnene besitzt das warnende Sirren straff gespannter Saiten: Jeder schöne hohe Ton kann jeden Moment ins Peitschen übergehen. Denn: Nun ist etwas zerrissen, das nicht heilen wird. »Störfall« heißt der Text von Christa Wolf, der nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl 1986 entstand. Den Bittergeschmack von Tod, ach, den lächelst, diskutierst, kochst, feierst du von einem bestimmten Punkt an nicht mehr weg aus deinem Leben, so viele Freunde du auch herbeirufst. Ruf die Freunde dennoch herbei. Wohl dem, der welche hat.

Darüber schreibt diese Schriftstellerin, schrieb sie immer, auch schon in »Nachdenken über Christa T.«, 1968: Eine Frau stirbt. Hoch drängt die Sehnsucht, »Erinnerung durch Erzählen heraufzuholen und sie für das Ich wieder ›verfügbar‹ zu machen - mit allen Vorbehalten gegenüber der Zuverlässigkeit unseres Gedächtnisses«. Im E-Werk des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin hat Patrick Wengenroth beide Wolf-Bücher zu einem Schauspiel verbunden (Bühne: Mascha Mazur, Musik: Matze Kloppe). Zweimal Tod. Die Katastrophen reichen sich, über unser Fassungsvermögen hinweg, die Hände. Christa Wolf stellt Wert und Wehe des einen, einzigen Lebens in den Konfliktkreis menschheitlicher Schicksalsgebung. Alles Tägliche und Gewöhnliche, alles Wohnen und Gewohnte plötzlich in größter Gefährdung.

Das Theater des Patrick Wengenroth ist seit Jahren ein fahrender Bibliotheksdienst, der literarische Bestände in die Theater liefert (Sloterdijk, Brasch, Zeh, Trojanow), unterwegs aber auf seiner Auto(ren)bahn auf Taststätten anhält und entdeckerische Suchfühlung zu den geladenen Stoffen aufnimmt: Wie lässt sich Prosa in Spiel wandeln, Essay in Expressivität, Monolog in Dialog?

Der Wolf-Abend offenbart die Methode in beeindruckender Meisterschaft! Wengenroth verdichtet - ohne sich in einem Best-of-Potpourri zu verlieren, der die Literatur der Christa Wolf zu einem Digest-Abend für Non-Reader kastrieren würde. Auch lässt sich ein Spätgeborener aus der Bundesrepublik nicht zu einer abstandsironischen, die DDR repetierenden, also zu einer banal systemkleinen Sicht verleiten. Die Sonnenstrahlen des FDJ-Emblems zieren die Hinterbühne, und nach Tschernobyl fällt das Wort von der »schönen neuen Welt«. Das besitzt einleuchtenden Doppelsinn: Praxis verrät jedes Pathos.

In keinem Moment knickt der Abend vor der literarischen, also fordernden Kraft des Geistes ein, den Christa Wolf vorgibt. Er ist leidenschaftlich anspruchsvoll, begeistert fragetüchtig, aufreizend heiter. Ist aufgewühlt nervenblank vor schwankender Beständigkeit und beständigem Schwanken: Was nimmt dem Leben die Schwere - weniger Träume oder weniger Schmerzen? Wie oft in seinem kurzen Leben wird man ein anderer? Fragen, die in den zwei Stunden dieser Aufführung zur bezwingenden, sympathischen, innigen, großartig rhythmisierten Verkörperung wird: durch Andreas Anke, Hannah Ehrlichmann, Robert Höller, Julia Keiling, Jennifer Sabel, Antje Trautmann.

Christa T.: das Leben in Mecklenburg, Ehe und Ausbruch; und parallel zu den Gedanken der Ich-Erzählerin über Tschernobyl eine Gehirnoperation des Bruders. »Soll den Mund verziehen, wer will: Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben«, so steht es in »Nachdenken über Christa T.«. So sticht der Satz ins Publikum. Wann ist das, die rechte Zeit? Und wer darf sie so nennen? Und wie lang darf man überhaupt annehmen, es sei die rechte Zeit? So viel an Erwartung und dann so viel mehr an Ermüdung und Zermürbtsein. Und Ungenügen. Christa Wolfs Thema, Patrick Wengenroths Treibstoff: eine komplexe Welt aus Entwurf und Zerwürfnis.

Alles überzeugend beisammen auf dieser Bühne: aggressive Todesabwehr, jungenhafte Biederkeit, blonde spröde Lust, stilvolle Schönheit. Es hat betörende Energie, wie dieses Ensemble gut gestuft Leben spielt, Spielen lebt: das Zuhören, das Ins-Wort-Fallen, das Einander-Bekräftigen, das Singen, das Tanzen, den Wider-Spruch, das Abwarten, das Agieren und Reagieren. Eine Partitur der Bewegungen und Worte, die das Nebenbei und die Bedrängung genauestens zu dosieren weiß. Ein großer Ernst, immer wieder auch eine dimmende Beiläufigkeit; manchmal Durchsichtigkeit, darin das Schwere schwebt, das Würgende singt. Melancholie wie in einem Reservat, darin sich noch einmal Hoffnung und Verzweiflung, Wachheit und Blindheit, Aufbruchswille und Anpassungsnot um die Hoheitsrechte im Leben streiten. Und immer auch ein Schweigen wie bei Tschechow, und jedes Wort eine Zuarbeit fürs Requiem.

Präzise aufgeteilt: die Erotik, die Hausfraulichkeit, der Moment für den Kuss und die Sekunde für die Ohrfeige. Männliche Arroganz, die überm Bauch spannt, hat ebenso ihren Augenblick wie die Schwangerschaft, die ein Gummiball unterm Morgenmantel ist. Windlichter auf grünen Grabstellen sind auch Unkraut auf Beeten. Ein Klettergerüst, Spielplätzen nachempfunden, ist Gebirge und Jagdhochstand. Und überall sitzen Krähen: Sehnsuchts- wie Todesvögel. Ein Lied von Bosse erklingt: »Baue mir Berge aus Schmerz und Fragen/ Sollen sie mich unter sich begraben// Haue Löcher in die Angst, in mein Gewissen/ Erste Brocken sind aus Kindheit und Vermissen.«

Literatur in der DDR kannte die heiteren, kämpferischen Bewirtschafter des Künftigen, aber da waren auch die Verzagten, Verprellten, Verzweifelten, fernab jener gesellschaftlichen Euphorie. Getrennte Sichten, getrennte Welten. In Einmaligkeit dazwischen und darüber stand das Werk der Christa Wolf. Niemand außer ihr vermochte den Weg vom plebejischen Auf- zum scheinsozialistischen Niederbruch, von der Weihe des geschichtlichen Ansinnens zur Wüstenei der inneren Ausleerung so wahrhaftig, so verquickt, so seismographisch präzise zu beschreiben. Als Einheit, als verwirrendes Zerren aller Gegensätze zugleich. Das war Wolfs erzählerische Gabe, die ihr Schreiben ins Weltliterarische verlängerte - Fritz J. Raddatz hat es in einem großfühlenden Essay bitter benannt: »Lebenszittern, Gedankenkrebs.« Brechts »Marie A.« wird gesungen und Nebel hereingepustet: die Wolke. Wandlung der Natur - vom schönen Bild zum Ausdruck dessen, was sich als Finsternis über uns legt.

Zu den letzten Sätzen in Christa Wolfs Vermächtnis-Roman »Stadt der Engel« gehört auch dieser: »Im Tod lernt man nichts, das finde ich traurig.« Vorm Tod liegt das Sterben - das noch zum Leben gehört. Das Leben ist. Sagt uns auch die Erschütterungswahrheit dieses sehenswerten Abends. So geht eine Atemnot durch die Aufführung - aber ebenso ein tapferes Atemschöpfen. Bis wieder so ein Satz fällt: dass doch wohl ein Missverständnis vorliegt, wenn der Mensch so einfach denke, er sei zum Glück gemacht. Und bleiben wir nicht das, was uns bereits in der Geburtsstunde eingeschrieben wurde? Sag einer das Gegenteil und behaupte, er sei im Besitz von Beweisen.

Nächste Vorstellungen: 3. und 20.12.

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