Im Literaturcafé

Martin Leidenfrost schaute sich die Eröffnung eine Kaffeehauses mit kulturellem Anspruch in Budapest an

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Wilhelm Droste, 64, ist ein Hüne aus dem Sauerland, den eine lebenslange Affenliebe zum Ungarischen treibt, besonders zur jüdischen Budapester Intelligenzija. Er ist Lehrer, Autor, Herausgeber, Kulturvermittler, Vater einer ungarischen Familie und Cafetier. Es macht mich stolz, dass er mich einen Freund nennt.

Wilhelms ausgeprägteste Obsession ist die Vision, dass Budapest ein Literaturcafé braucht. 1993 oder 1994 quatschte er diesbezüglich den aufstrebenden Jungpolitiker Viktor Orbán voll, »er war ein großer Zuhörer, sehr neugierig, hatte ein großes Gespür«. Die Idee sei Orbán »bestimmt nicht unsympathisch« gewesen. Wilhelm gründete danach zwei Mal ein Literaturcafé, beide gingen krachen. Am Mittwoch der letzten Woche startete er mit vier Kompagnons seinen dritten Versuch.

Auch Viktor Orbán ist inzwischen weiter. In seiner Stadionrede zum Jubiläum der Reformation nannte er seine »christliche Regierung« einen »Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit« und fügte hinzu: »Jede Art von Arbeit dient auch dem Ruhm Gottes, vom Straßenfegen bis zum Regieren.« Als ich letzten Mittwoch durchs Pester Zentrum ging, war es so verrotzt wie immer, vor manchen Eingängen und in allen Unterführungen lagen Obdachlose zwischen Pfützen. Daneben sah ich einen Infostand zu einer »nationalen Konsultation« über den Vertrag von Trianon, aufgrund dessen Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums verloren hatte. Es stand groß geschrieben: »Trianon tut uns weh.«

Um fünf Uhr lud der Triester Kaffeeröster noch aus, da waren die vier Etagen des neuen Kaffeehauses »Drei Raben« schon ziemlich voll. Die Lage zwischen der Einkaufsstraße Váci utca und der Elisabethbrücke war exzellent. Kapellen spielten auf, Bearbeitungen von Wilhelms Dichtergott Endre Ady wurden dargeboten. Individuell zugeschnittene Brötchen aus Aufstrichen, scharfem Liptauer und scharfen Salamis wurden geschmiert. Um sieben setzten sich bebrillte Silberrücken in schweren Sakkos hin und lasen und sprachen zur Eröffnung. Ottó Tolnai aus der Vojvodina, Endre Lábass, Wilhelm.

Danach malten die Gründerväter Raben auf drei weiße Luftballons und zogen auf die Elisabethbrücke hinaus. Nach dem Vorbild des Schriftstellers Ferenc Molnár, der einst den Schlüssel des glamourösen Kaffeehauses »New York« in die Donau geworfen hatte, damit es nicht schließen konnte, banden sie Schlüssel ihres neuen Cafés an die Luftballons und entließen sie in die Lüfte. Die Ungarn unter uns riefen: »Sikerült!«, »Gelungen!« Die Schlüssel sollten später in Serbien gefunden werden.

Gegen elf fand ich Wilhelm wie Buddha im Theaterkeller thronend. Er sagte aufgekratzt: »Ich würde gerne einen Ort der Ruhe und Gelassenheit herstellen.« Viele Menschen hätten einander an diesem Abend wiedergefunden, »das ist so eine ungarische kleine Tür, Unmögliches wird möglich«. - »Ist die Stimmung wieder so gut wie damals?« - »Jeder hat seine Melancholie getankt. Die Leute sind isoliert, sogar Freunde gehen sich aus dem Weg. Das ist tiefer als Politik, das ist kollektive Müdigkeit.« - »Glaubst du, freut sich Orbán auch, dass Budapest nun wieder ein Literaturcafé hat?« - »Ich glaube, das ist außerhalb seiner Wahrnehmung.« Geschmeidige junge Körper huschten an mir vorbei und begannen einen nichtnarrativen Ausdruckstanz. »Wir wollen viel probieren«, flüsterte Wilhelm.

An der Eröffnung dieses Kaffeehauses war eigentlich nichts - jedenfalls nicht vordergründig - politisch. Nur eine einzige Dame trug den Sticker der Solidarität mit der von Orbán angegriffenen Soros-Hochschule CEU, und nur wegen mir brach eine Diskussion über europäischen Grenzschutz aus. Die Schuld daran trug der Alkohol: Im Bewusstsein meines schlechten Ungarisch bestellte ich eine doppelte Birne mit solchem Nachdruck, dass ich eine vierfache bekam.

Schuld war auch die Preispolitik: Ein Dezi Wein 250 Forint, ein Espresso Macchiato 450 - Wilhelm, wieso? »Kaffeekultur«, erklärte der Verehrer der Wiener Kaffeehäuser, »man bekommt Wasser auf einem Tablett dazu.« - »Den Löffel haben sie mir aber nicht aufs Wasserglas gelegt.« - »Da müssen wir hin.«

Wer nun mit eigenen Augen sehen will, wie sich das Vornehmste aus dem ungarischen und deutschen Dichten und Denken vermählt, muss an der U-Bahn-Station »Ferenciek tere« aussteigen. »Három Holló Kávéház«, Piarista köz 1, 1052 Budapest.

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