Im Zeichen der Ziegel

Mecklenburg-Vorpommern ist ein Backsteinparadies. Von Ekkehart Eichler

  • Ekkehart Eichler
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei flüchtigem Blick sieht es aus wie ein Fischgerippe. Es könnte aber auch eine Hieroglyphe sein oder ein okkultes Symbol. Schaut man genauer hin, gleicht es eher einem umgekippten Strichmännchen mit Kopf, Armen, Körper und einem abgespreizten Bein. Doch mit Totenkult hat das Ganze wohl kaum zu tun. Was also mag das bedeuten?

Das geheimnisvolle Zeichen ist in den östlichsten der vier Pfeiler geritzt, die das Rathaus von Grimmen auf den Schultern tragen. Sehr diskret angebracht - in Wadenhöhe an der Innenseite der Arkade -, wäre keiner darauf gestoßen, hätte Dr. Sabine Fukarek nicht darauf hingewiesen. Jetzt amüsiert sich die Chefin des Heimatmuseums prächtig über die waghalsigen Interpretationen und unbeholfenen Deutungsversuche der anwesenden Laienschar.

Das zweigeschossige, um 1400 erbaute Rathaus der vorpommerschen Kleinstadt ist ein Paradebeispiel für die hohe Kunst, sowohl wuchtige Mauern als auch spielerische Details aus gebackenen Ziegeln mit unglaublicher Leichtigkeit zu einem harmonischen Gebilde zu verschmelzen. Mit hoch aufstrebendem Pfeilergiebel erinnert es zum einen an die im Ostseeraum typischen Patrizierhäuser; doch auch Parallelen zu den Rathäusern von Lübeck und Stralsund sind erkennbar. Genau wie dort dominiert überdies das Rathaus den Markt und nicht die eher abseits gelegene Kirche - Ausdruck des Selbstbewusstseins mittelalterlicher Kaufleute.

Im Backsteinparadies Mecklenburg-Vorpommern freilich stellt Grimmen trotz seines Rathauses und dreier Stadttore allenfalls eine Fußnote dar. Denn schon in nächster Nähe sind Größe und Erhabenheit der mittelalterlichen Backsteinbaukunst in atemberaubender Art und Weise manifest; beherrschen gotische Giganten, die sogenannten roten Hünen, den Himmel über den Städten der Hanse. So überragen im nahen Greifswald der Dom St. Nikolai und die »Dicke Marie« mit fußballfeldgroßem Dach die Altstadt. In Stralsund verschmilzt St. Nikolai beinahe mit dem Backsteinwunder des sechsgiebligen Rathauses. Den 117 Meter hohe Turm der Rostocker Marienkirche kann man auf See noch in 50 Kilometer Entfernung ausmachen. Das Münster des Zisterzienserklosters in Doberan gilt unter Fachleuten als genialste Synthese aus mönchischer Strenge und kompakter Eleganz.

Das ist längst nicht alles: Unter den Höhenflügen aus Stein ducken sich Altstadtkerne mit prachtvollen Häusern, Fassaden, Türmen, Toren, Giebeln, Wallanlagen - allesamt aus leuchtend rotem Backstein. Mit sieben Achsen etwa entfaltet das Haus Nr. 11 am Greifswalder Markt den ganzen Formenreichtum spätgotischer Schmuckgiebel - an der gesamten Ostsee dürfte es kaum ein schöneres Bürgerhaus aus dem Mittelalter geben. Und auch die UNESCO-Welterbe von Stralsund und Wismar haben diesbezüglich einiges im Angebot.

Der Spur der Steine führt weit zurück. Durch die Gründung von Städten und die ostelbische Christianisierung wird im Mittelalter ein Bauboom ohnegleichen ausgelöst. Die neue Zeit verlangt nach massiven und repräsentativen Gebäuden, für die Holz und Lehm als Baustoff nicht mehr infrage kommen. Doch in der ganzen Gegend existiert kein Material, aus dem die Neusiedler Steine herstellen können. Zwar gibt es Granitfindlinge in Hülle und Fülle; aber die sind viel zu hart und finden allenfalls beim Bau von Dorfkirchen Verwendung.

Um die großen Bauvorhaben anzugehen, muss man also Steine aus Tonerde brennen. Bis dato eine mühsame Sache, da die Ziegel per Hand geformt und dabei unregelmäßig werden. Der Durchbruch gelingt cleveren Kaufleuten mit einer revolutionären Technologie: Sie erfinden den hölzernen Formkasten, mit dem Backsteine gleichmäßig und in Serie gefertigt werden können. Die zwischen 800 und 1000 Grad »gegarten« Steine eignen sich für Säulen und Mauern, für Verzierungen und Spitzen. Aus wenigen Grundbausteinen lassen sich allein durch unterschiedliche Anordnung erstaunlich viele Muster erzeugen. Und dort, wo der Stein die architektonischen Möglichkeiten einschränkt, erfinden die Baumeister eine einzigartige Formensprache aus Blendgiebeln, Bögen und Mustern. Die für den Backstein typische Farbe entsteht übrigens beim Brand, wenn gelbliches Eisenhydroxid in rotes Eisenoxid verwandelt wird.

Besonders schön anzuschauen ist die Backsteingotik ab Ende November, wenn die Altstädte von Rostock, Stralsund, Wismar und Greifswald im vorweihnachtlichen Licht erstrahlen. In deren Glanz verwandeln sich dann die prächtigen Marktplätze und verwinkelten Altstadtgassen in zauberhafte Kulissen für die alljährlichen Weihnachtsmärkte. In Stralsund geht man dabei sogar in den Untergrund: Der Rathauskeller gilt als größtes erhaltenes gotisches Gewölbe im gesamten Ostseeraum und wird in der Adventszeit zur Kulisse für Weihnachtsmarkt und Weihnachtsmann.

Zurück am Rathaus von Grimmen bleibt noch das Rätsel des geheimnisvollen Zeichens aufzulösen. Frau Fukarek hat zwei Deutungen parat: »Manche meinen, es könnte ganz simpel ein Logo des Herstellers sein. Variante Nummer zwei: Es symbolisiert den Gerichtsstand.« Und dafür spricht einiges mehr, wie die Expertin verrät. Im Zeichen nämlich seien Schwert und Waage als ägyptische Gerechtigkeitssymbole sowie der griechische Buchstabe Tau vereint; sie sprächen für den Willen, nach festgeschriebenen Gesetzen zu handeln, Schuld und Unschuld gewissenhaft abzuwiegen und ein gerechtes Urteil zu fällen.

Infos

Tourismusverband Mecklenburg- Vorpommern: Tel.: (0381) 403 05 00
www.auf-nach-mv.de/backstein

Tourist-Info Rostock:
Tel.: (0381) 381 22 22 www.rostock.de/urlaub- freizeit.html

Tourismuszentrale Wismar: Tel.: (03841) 19 433 www.wismar.de/ tourismus-welterbe

Tourismuszentrale Stralsund: Tel.: (03831) 24 690 www.stralsundtourismus.de

Tourist-Info Greifswald: Tel.: (03834) 85 36 13 80 www.greifswald.info

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