Abgeschält

Musik zur Weihnacht - das neue Album der belgischen Post-Metal-Band Amenra

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 2 Min.

Besinnliche, gnadenbringende Weihnachtszeit! Endlich findet man zum Jahresende das verdiente Quentchen Ruhe und ein paar Stündchen Zeit, um sich in eine warme Microfaserdecke zu kuscheln, genüsslich die fingerdick im Raum stehenden Rückstände des soeben großzügig versprühten Tannenduftsprays zu inhalieren, die Körperfunktionen herunterzudimmen und endlich mal wieder laut Whams längst vergessenen Smash Hit »Last Christmas« oder Mariah Careys wunderbare Superschnulze »All I Want For Christmas Is You« zu hören. Schön! Doch darf man nicht vergessen: Nicht nur Zimtsterneknabbern, Teetrinken und Klebstoffschnüffeln gehört zum Weihnachtsfest, sondern auch der Tod.

Während wir vor unserem Festtagsbraten sitzen, sollten wir uns im Geiste stets den unverwechselbaren Klang des Bolzenschussgeräts vergegenwärtigen. Für Tiere ist Weihnachten nicht das traditionelle Fest der Liebe und des ritualisierten Familienstreits, sondern die Zeit, in der sie traditionell geschlachtet, zerstückelt, portionsgerecht verpackt und verschlungen werden. Schließlich gelten auch an Weihnachten die Gesetze der sozialen Marktwirtschaft: Der im Markt besser positionierte Marktteilnehmer (Bolzenschussgerät) setzt sich durch. Wer bei diesem täglichen Survival-Of-The-Fittest-Contest unterliegt, weil sein weiches Federkleidchen über kurz oder lang gegen das scharfe Schlachtermesser keine echte Chance hat, hat eben nun mal einen Wettbewerbsnachteil, der ihm ja vorher hätte klar sein können und um dessen Behebung er sich bitteschön rechtzeitig hätte kümmern sollen bzw. können.

Passend zu den festlichen Tagen zeigt das Artwork des neuen Albums der belgischen Post-Metal-Band Amenra vor tiefschwarzem Hintergrund auf anthrazitgrauer Oberfläche drapierte Tierleichname: Ob Kaninchen, Lämmchen oder Geflügel - alle liegen ebenso leblos wie dekorativ herum. Die Musik verbindet geschickt Augenblicke der weihnachtlichen Stille und Andacht mit krachenden Gitarrenwänden.

Die Fachpresse geriet beim Erscheinen der Platte in einen regelrechten Trancezustand bzw. in religiöse Ekstase. Die Zeitschrift »Intro« etwa schwärmte von »spirituell anmutender Repetition«. Und auch dem »Metal Hammer« wurde extrem weihnachtlich zumute: »Scheinen Colin Van Eeckhouts Schreie in einem Augenblick noch den eigenen Geist fast entzweizureißen, ist es sein fernes Flüstern, das schließlich Tränen in die Augen treibt.« Um tränende Augen zu bekommen, braucht es also nicht zwingend Glühwein, und man muss auch nicht warten bis zur Bescherung. Es reicht vollkommen, dieses Album zu hören. Schon allein wegen Van Eeckhouts »exorzistischen Schreiattacken«, die klingen, »als würde ihm die Haut mit dem Teppichmesser abgeschält« (»Intro«). Genau das scheint mir ja auch die angemessene Reaktion eines vernünftigen Menschen auf Weihnachten.

Amenra: »Mass VI« (Neurot/Cargo)

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