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Die Salafisten gründen das Matriarchat

Im Geschlechterkampf setzen ultrakonservative Muslime zunehmend auf Predigerinnen

  • Florian Haenes
  • Lesedauer: 4 Min.

Frauen nehmen in Deutschland zunehmend prägende Rollen im Salafismus ein. Wie die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« berichtet, hat sich in Nordrhein-Westfalen ein »Schwesternnetzwerk« aus 40 Salafistinnen gebildet, das vor allem online Missionierungsarbeit leistet. »Die Männer haben gemerkt, dass Frauen viel besser netzwerken können und deshalb viel stärker in der Lage sind, die Szene zu binden und am Leben zu erhalten«, wird Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes, zitiert. Damit lernen Salafisten in Deutschland von Fundamentalisten in arabischen Ländern. Dort setzt der ultrakonservative Islam längst auf die Überzeugungskraft reaktionärer Frauen.

In Saudi-Arabien, dem Mutterland des Salafismus, ließ der Shura-Rat jüngst sogar Frauen als Muftis zu. Seit Oktober dürfen auch sie Fatwas, staatlich anerkannte Rechtsgutachten, aussprechen. Salafisten gehen also mit der Zeit. Weibliche Online-Predigerinnen wie Nawal Al-Eid (vier Millionen Twitter-Follower) stoßen mit streng salafistischen Botschaften auf enorme Resonanz. Al-Eid spricht sich gegen die Verschärfung des saudischen Sexualstrafrechts aus und unterstützt Geschlechtertrennung und Vollverschleierung. Die liberale Moderne lehnt sie mit dem Argument ab, dass der Islam Frauen genügend Rechte gewähre. Zwar verdecke der Schleier ihr Gesicht. Er hindere sie jedoch nicht daran, mit ihrer Meinung in die Öffentlichkeit zu treten.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie spürt Richard A. Nielsen, Politikprofessor am Massachusetts Institute of Technology, dem Phänomen der Predigerinnen nach. Salafistinnen können sich nach seiner These erst seit kurzem eine Anhängerschaft aufbauen, weil sich die strikte Trennung von Mann und Frau im digitalen Raum erübrigt. Da sich die Öffentlichkeit ins Internet verlagert, scheinen sich für Salafisten politische Freiheit für Frauen und Geschlechtertrennung nicht länger auszuschließen.

Salafisten können solche Veränderungen akzeptieren, ohne mit ihrer Ideologie in Widerspruch zu geraten. Ihr Furor richtet sich ausschließlich gegen »Bid'a«, gegen Neuerungen in religiösen Praktiken. Er richtet sich nicht gegen technischen und gesellschaftlichen Wandel. Die Fortschrittsfeindlichkeit von protestantischen Täufergemeinschaften in den USA, die noch immer mit Pferdekutschen umherfahren, ist Salafisten fremd. Es überrascht also nicht, dass die Predigerinnen, deren Publikationen Nielsen untersucht hat, sich nicht bloß zu Nischenthemen äußeren, sondern sich in große religiöse Debatten und Fragen von Krieg und Frieden einmischen. Ihre Beiträge werden von Männern ebenso kommentiert und verbreitet wie von Frauen.

Salafisten sind überzeugt, dass Mann und Frau nur vor Gott gleich sind. Gleiche Rechte auf Erden gibt es ihrer Ansicht nach nicht. Die Befreiung der Frau ist deshalb die Urangst dieser reaktionären Bewegung, die in ihrer heutigen Form erst nach der sexuellen Revolution von 1968 entstanden ist. Seit den 1970er Jahren wird die Ideologie von saudi-arabischen Netzwerken auf der ganzen Welt propagiert. Weil Salafismus Geschlechterkampf ist, wollen seine Apologeten auf die Wirkung jener Frauen nicht verzichten, die die Emanzipation nach westlichem Vorbild ablehnen und diese Haltung öffentlich vertreten.

Nielsen arbeitet heraus, wie sich Predigerinnen in Debatten ihrer »Identitätsautorität« bedienen. Er verglich die Argumentationsmuster von Predigerinnen und Predigern auf der arabischen Internetseite »saaid.net«. Während Männer ihre Argumente vor allem mit Koransuren und Aussprüchen des Propheten, den Hadithen, begründen, leiten Frauen Argumente häufig mit den Worten »Ich als Frau« oder »Ich als Mutter« ein. Die Predigerinnen nehmen damit eine Sprecherposition ein, die dem Mann überlegen ist. Kein Mann kann einen Satz mit »Ich als Frau« beginnen, um im nächsten Atemzug die Unsittlichkeiten verwestlichter Frauen anzuprangern. Dass sich reaktionäre Bewegungen den Regeln der »Identitätspolitik« fügen, ist nicht neu. So hat vermutlich auch die AfD Alice Weidel, eine homosexuelle Frau, wegen ihrer »Identitätsautorität« zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl gewählt.

Doch noch aus einem weiteren - rätselhaften - Grund sind Predigerinnen für Salafisten vorteilhaft. Männern kann unterstellt werden, die patriarchale Ideologie aus Eigennutz zu bewerben. Im Fall der Salafistinnen versagt diese Erklärung. Schließlich geben sich Salafistinnen freiwillig der Unfreiheit hin und preisen ihre Unterdrückung auch noch. Die Widersprüchlichkeit löst sich erst auf, wenn man ihr Verhalten durch den Glauben an Gott erklärt, der ihnen einen festen Platz zuweist. Erst dann erkennt man in ihrem Verhalten Duldsamkeit (eine früher tatsächlich anerkannte Tugend), und versteht vielleicht, warum Predigerinnen auf moderne Sinnsucher mitunter eine Faszination ausüben.

All das erklärt, weshalb Salafisten Frauen zunehmend erlauben, öffentlichkeitswirksam in Erscheinung zu treten. Dem Verfassungsschutz bereitet das neue »salafistische Matriarchat« Sorge. Männer, die im Verdacht stehen, Anschläge zu planen, kann der Staat observieren und inhaftieren - die 720 Gefährder, die Polizei und Verfassungsschutz beobachten, sind mit wenigen Ausnahmen männlich. Salafistische Frauennetzwerke hingegen, solange sie sich an Straftaten nicht beteiligen, darf der Staat nicht hochnehmen. »Es beginnt etwas zu entstehen, was sehr viel schwerer aufzulösen ist, nämlich salafistische Gesellschaftsteile«, warnt daher NRW-Verfassungsschutzchef Freier.

Die Ironie ist, dass es ja der Staat selbst war, der mit dem Verbot von Koranverteilaktionen, Razzien und Strafverfolgung die Salafisten in den digitalen Raum hinein drängte. Den Aufstieg der Predigerinnen im Cyberspace hat er damit möglicherweise befördert.

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