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Viel mehr als ein Betriebsausflug

Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten? Micha Brumlik warnt vor der vorschnellen Umsetzung eines umstrittenen Vorschlags

  • Micha Brumlik
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Vorschlag der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, keineswegs nur neu nach Deutschland kommenden Zuwanderern – zumal aus den arabischen Ländern – den Besuch einer KZ-Gedenkstätte zur verpflichtenden Auflage in Integrationskursen zu machen, stößt nicht nur auf Zustimmung.

Sogar die ansonsten konservativ eingestellte »Frankfurter Allgemeine Zeitung« glaubte, die SPD-Politikerin kritisieren zu sollen. »Müssen«, so fragte Hannah Bethke, »Menschen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind, sich wirklich in gleicher Weise für unsere Geschichte verantwortlich fühlen wie wir? Haben sie nicht das Recht auf ihre eigene Geschichte? Und bedeutet Integration nicht gerade, dass in beiderseitigem Prozess der Horizont des einen sich öffnen soll für den Horizont des anderen?«

Micha Brumlik
Micha Brumlik ist Erziehungswissenschaftler und schreibt über Judentum und Erinnerungspolitik.

Mit dieser Frage offenbarte Bethke nicht mehr und nicht minder als ein nur vermeintlich fremdenfreundliches, letztlich aber doch ethnizistisches politisches Bewusstsein, eventuell sogar eine ablehnende Haltung gegenüber einer auf Einbürgerung zielenden Integration. Denn: Bei der Frage der Integration geht es vor allem darum, Neuankömmlinge weniger mit den Werten einer Lebensführung denn mit den moralischen und rechtlichen Prinzipien vertraut zu machen, denen die Institutionen dieser Demokratie unterliegen – in erster Linie des Grundgesetzes, in dessen erstem Artikel unmissverständlich steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«

Diese Grundnorm der Bundesrepublik, die sich zwar nicht an jeden einzelnen Bürger, sondern an die Institutionen des Staates richtet, will aber material verstanden sein, wenn ein – für die Integration unerlässliches – straffreies Leben möglich sein soll. Ohne Kenntnis der Geschichte Deutschlands unter dem Nationalsozialismus, ohne Kenntnis der von Hunderttausenden von Deutschen arbeitsteilig begangenen Ermordung von sechs Millionen Juden, von Sinti und Roma sowie sowjetischen Kriegsgefangenen ist die Genese dieses weltweit einmaligen Verfassungsprinzips aber überhaupt nicht zu verstehen. Worum geht es?

In dem Bericht des Schriftstellers Primo Levi über seine Lagerhaft in Auschwitz wird den Erfahrungen absoluter Entwürdigung Rechnung getragen: »Mensch ist«, so notiert Levi einen Tag vor der Befreiung des Lagers, »wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt.

Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als (...) der grausamste Sadist.« Es war nicht zuletzt die Erfahrung der Shoah, der industriellen, aber eben auch handwerklichen Massenvernichtung der europäischen Juden durch breite Teile der deutschen Bevölkerung unter nationalsozialistischer Führung, die dem Begriff der »Würde« des Menschen eine Prägnanz verliehen hat, die er vorher so nicht hatte.

So sehr also der Vorschlag Cheblis im Grundsatz zu bejahen ist, so sehr ist doch auch vor einer vorschnellen Umsetzung zu warnen. Besuche in KZ-Gedenkstätten sind anspruchsvolle pädagogische Aufgaben, die bestens vorbereitet und gründlich nachbereitet sein wollen, wenn sie bei den BesucherInnen langfristige Einsichten bewirken sollen. Ein nur rituelles Anreisen, ein schneller, lieblos geführter Durchgang sowie eine ebenso schnelle Abreise würden derlei zu einem lieblosen Betriebsausflug werden lassen, der eine mögliche Einsicht nicht nur nicht befördern, sondern geradezu kontraproduktiv verhindern würde.

Ist doch die Thematik zumal für Immigranten aus arabischen Ländern dadurch belastet, dass sie durch die dortigen Staatsführungen oft als »zionistische« Propaganda verunglimpft wird sowie dadurch, dass das unerlässliche narrative und auch Bildmaterial gefühlsmäßig so belastend ist, dass es leicht Abwehrreaktionen provoziert.

Wenn es der Berliner Staatssekretärin mit ihrem Vorschlag wirklich ernst ist, sollte sie sobald wie möglich im Rahmen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport einen pädagogisch professionell konzipierten Modellversuch mitsamt einer ebenso professionellen Evaluation in Auftrag geben – die deutsche Gedenkstättenpädagogik kann hier auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken. Das kann seine Zeit dauern – ein Schnellschuss freilich würde das, was so sinnvoll und gut gemeint ist, sehr schnell zum Scheitern führen.

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