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  • Bildungspolitik der Großen Koalition

Ganztagsschule zum Billigtarif

Nach den Plänen von Union und SPD soll die Grundschule künftig um 16 Uhr enden - doch der Bund ist für dieses Thema gar nicht zuständig

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.

Mittwoch elf Uhr. Die Lehrerin einer Schule am Niederrhein wünscht den Erstklässlern ein »schönes Wochenende«. Vor dem Tor warten schon die Familienvans, startbereit für den Kurzurlaub. Morgen ist Feiertag, dann folgt ein Brückentag, an dem der Unterricht ebenfalls ausfällt. Der Ausflug in das verlängerte Wochenende lohnt sich also. Doch das Arrangement hat einen Haken: Nur wenige Kinder fahren direkt nach der Schule in ein Ferienhaus am Meer. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich spätestens ab halb zwölf fragen, was sie machen sollen. Denn Papa und Mama sind an ihrem Arbeitsplatz. Das interessiert die Schule allerdings wenig, sie versteht ihre Leistung rein pädagogisch. Wenn Eltern den Stundenplan der Kinder nicht mit ihren betrieblichen Abläufen koordinieren können, gilt das als privates Problem.

Zugegeben, die Geschichte ist einseitig erzählt. In der Regel beginnt das schulische Wochenende nicht am Mittwochmorgen. Doch willkürliche Anfangs- und Schlusszeiten, für Mütter wie Väter ein deutlicher Rückschritt nach der vergleichsweise verlässlichen Kita, sind vor allem im Westen Deutschlands nach wie vor üblich. Gegen 13 Uhr beginnt an den Grundschulen der Offene Ganztag, kurz »Ogata« genannt. In solche halbherzigen Initiativen ohne feste Verpflichtung investierte die rot-grüne Koalition ab 2003 etwa vier Milliarden Euro. Zuständig für die Umsetzung waren im deutschen Bildungsföderalismus die Länder. So entstand eine chaotische Vielfalt an Betreuungsformen, ein regionaler Flickenteppich. »Es mangelt an gemeinsamen Standards«, monierte der Bildungsforscher Klaus Klemm schon damals in einer Expertise.

Künftig endet die Grundschule erst um 16 Uhr - so planen es die potenziellen Koalitionäre von Union und SPD. Jedes Kind soll einen individuellen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung erhalten. Das würde einen Richtungswechsel fortsetzen, den schon der Ausbau der Kindertagesstätten eingeleitet hat. Doch eigentlich ist der Bund für dieses Thema gar nicht zuständig, wegen des umstrittenen Kooperationsverbotes. Der deshalb favorisierte Umweg, die Ganztagsgarantie über die im Sozialgesetzbuch geregelte Kinder- und Jugendhilfe umzusetzen, stößt auf Widerstand. Länder und Kommunen fürchten zusätzliche Ausgaben.

An den Grundschulen fehlen bis zum Jahr 2025 rund 1,5 Millionen Plätze, kritisiert eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung. Gerade mal jedes dritte Kind nimmt derzeit in der Primarstufe am Ganztag teil. Die Quoten schwanken dem nationalen Bildungsbericht zufolge zwischen 88 Prozent in Hamburg und nur 15 Prozent in Bayern. Die »freiwilligen« und teilweise auch noch kostspieligen Angebote motivieren gerade Mütter aus einkommensschwachen Familien, ihr Kinder frühzeitig nach Hause zu holen. So wird auch das eigentlich angestrebte Ziel einer gerechteren Verteilung von Bildungschancen konterkariert.

Das Halbtagssystem ist ein (west-) deutscher Sonderweg, in fast allen europäischen Ländern ist Nachmittagsunterricht selbstverständlich. Fast nirgendwo gibt es ein zeitlich so begrenztes Angebot an schulischer Bildung. Und nirgendwo werden die Probleme, die sich daraus ergeben, in ähnlich drastischer Form auf die Familien abgewälzt. Ob Erkrankungen, Sprechtage, Fortbildungen, Betriebsausflüge oder Hitzefrei - Gründe gibt es viele, warum der ohnehin knapp bemessene Unterricht ausfällt. Wenn Eltern dann nicht auf hilfsbereite Verwandte, Nachbarn oder Freundinnen zurückgreifen können, sind sie kaum in der Lage, dauerhaft einer bezahlten Arbeit außer Haus nachzugehen.

Tief sitzende ideologische Grundlage dieser Misere ist ein konservatives Familienbild, die Ablehnung von Erziehung als vorwiegend öffentliche Aufgabe. Früher war von »Verwahranstalten« die Rede, von »Rabenmüttern« und »Schlüsselkindern« - spezifisch deutsche Begriffe, die es in anderen Sprachen gar nicht gibt. So ist in Frankreich die Rolle des Staates als pädagogische Instanz seit der Aufklärung positiv besetzt - während man hierzulande in der Tradition deutscher Innerlichkeit und geprägt durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus gleich totalitäre Indoktrination wittert.

Der Staat soll seine »Einmischung« nach diesem Verständnis auf wenige Stunden Bildungsvermittlung am Vormittag beschränken. Weil das immer weniger zur Berufstätigkeit beider Elternteile passt, debattieren Politiker, auch von den Unternehmern unter Druck gesetzt, jetzt endlich ernsthaft über Ganztagsschulen. Der Mut zum wirklich großen Wurf aber fehlt, man betreibt Flickschusterei und improvisiert mit Scheinlösungen. »Ogata« oder »Pakt für den Nachmittag« bedeuten in der Regel Vormittagsunterricht nach altem Muster mit anschließender Beaufsichtigung durch nicht angemessen qualifizierte (und schlecht bezahlte) Aushilfskräfte. An vielen Schulen gibt es nach wie vor keine richtige Küche, oft nicht einmal geeignete Räume für die Mittagspause. Fast alle Lehrer und Lehrerinnen sind wie gewohnt zwischen 13 und 14 Uhr verschwunden, die Versorgung der Kinder übernehmen dann freie Träger, Eltern oder Ehrenamtliche aus Vereinen. In den Ferien, zusammengerechnet rund ein Viertel des Jahres, läuft in den Schulen meist gar nichts. Solche »Billigvarianten«, wie sie der Bildungswissenschaftler Wilfried Bos nennt, erfüllen nicht die Erwartungen, die in das Ganztagsprogramm einst gesetzt wurden. Sein Kollege Dirk Zorn von der Bertelsmann-Stiftung spricht von einem »konzeptionellen Vakuum«.

Notwendig wäre eine umfangreiche schulpolitische Initiative, um zumindest europäischen Normalstandard zu erreichen. Ein rhythmisierter, in den Nachmittag gestreckter Unterricht, in dem sich Lernphasen und Freizeitangebote abwechseln, macht dem zermürbenden Jonglieren der Eltern zwischen Stunden- und Schichtplänen ein Ende. Bezeichnend für die vernagelte Debatte hierzulande ist, dass im Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch an Grundschulen jetzt von einem »Ganztagsschulzwang« die Rede ist. Denn es geht nicht um Zwänge, sondern um eine zeitgemäße Infrastruktur, die im Idealfall zudem mehr soziale Gerechtigkeit ermöglicht. Dennoch fehlt im Bund wie in den Ländern weiterhin der politische Wille, die gebundene Ganztagsschule flächendeckend einzuführen. Die kostet auch nicht einmalig vier Milliarden, wie das Pilotpaket von 2003. Bildungsforscher schätzen die Ausgaben dafür auf mindestens zehn Milliarden Euro - pro Jahr!

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