Symbolische Friedensspiele

Was sich Koreaner von Olympia erhoffen

  • Fabian Kretschmer , Pyeongchang
  • Lesedauer: 9 Min.

Für Bae Seong Han, einem 40-jährigen Familienvater aus der Seouler Vorstadt, war es nicht weniger als Ehrensache, dass er seinen diesjährigen Winterurlaub mit Frau und Kindern in Pyeongchang verbringen wird. Bae steht am Fuße des Alpensia-Skihangs, wo schon in wenigen Tagen die besten Biathleten der Welt um die Medaillen kämpfen werden. An diesem eisigen Januartag rasen jedoch nur seine zwei siebenjährigen Zwillinge durch den Schnee - auf neongelben Plastikschlitten.

»Als ich im Alter meiner Söhne war, fanden bei uns in Seoul gerade die Olympischen Sommerspiele statt«, erinnert sich der Büroangestellte mit der schwarzen Baseballkappe. Aufgrund schleppender Ticketverkäufe habe die Regierung damals Eintrittskarten an die Grundschulen verteilt. »So konnte ich auch einmal dabei sein. Wenn ich so zurückdenke, war das ein einschneidendes Erlebnis«, sagt er. Zum ersten Mal seit dem Koreakrieg habe die Welt nach Südkorea geschaut - eine aufstrebende Wirtschaftsnation, dessen Bevölkerung kurz zuvor ihrer Militärregierung freie Wahlen abgerungen hatte.

30 Jahre später sorgt jedoch vor allem der nördliche Nachbar für die großen Schlagzeilen: Noch vor wenigen Monaten galt Nordkorea als Damoklesschwert, das drohend über der Aussicht auf Erfolg für die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang schwebte. In ausländischen Wintersportverbänden regte sich Unbehagen bei dem Gedanken daran, ihre Athleten ins 80 Kilometer von der innerkoreanischen Grenze entfernte Pyeongchang zu schicken. Die französische Sportministerin Laura Flessel erwog noch im September 2017 sogar einen Olympiaboykott.

Seit seiner Neujahrsansprache hat Kim Jong Un das Blatt jedoch gewendet - und einen regelrechten PR-Coup gelandet: Die beiden Koreas haben sich nicht nur während der ersten gemeinsamen Gespräche seit zwei Jahren über Nordkoreas Olympiateilnahme geeinigt, sondern werden auch ein gemeinsame Frauen-Eishockeymannschaft ins Turnier schicken und unter einer Einheitsflagge gemeinsam bei der Eröffnungsfeier ins Olympiastadion einlaufen. Der Bobweltverband regte zudem ein gemeinsames Viererbobteam der Männer an, das zwei Nord- und zwei Südkoreaner in einem Schlitten vereinen sollte.

Herrn Bae ärgert das alles: »Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, was sich die Nordkoreaner überhaupt von den Winterspielen versprechen. Letztendlich geht es doch um den Sport, und da haben die eher nur mittelklassige Athleten.« Tatsächlich hat sich nur ein nordkoreanisches Eiskunstlauf-Paar regulär qualifiziert, die restlichen Teilnehmer waren auf sogenannte Wildcards vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) angewiesen. Von Südkoreas linksliberaler Regierung wurden die sportdiplomatischen Avancen des Nordens jedoch mit offenen Armen aufgenommen. Präsident Moon Jae In spricht gar von symbolischen »Friedensspielen« in Pyeongchang, die einen historischen Wendepunkt auf der koreanischen Halbinsel darstellen könnten.

Die südkoreanische Bevölkerung zeigt sich dennoch gespalten. Laut einer repräsentativen Umfrage von Ende Januar begrüßen nur 40 Prozent aller Befragten, dass die Athleten des geteilten Landes unter derselben Flagge einlaufen werden. Die US-amerikanische Trainerin der südkoreanischen Eishockeymannschaft, Sarah Murray, sprach gar von einem »Schaden« für ihre Spielerinnen. Viele von ihnen hätten jahrelang auf die Erfüllung ihres Traums hingearbeitet, in ihrem Heimatland bei den Olympischen Spielen aufs Eis zu laufen. Dass sie nun für nordkoreanische Athletinnen möglicherweise auf der Reservebank Platz nehmen müssen, habe die meisten im Team verärgert.

In der Küstenstadt Gangneung werden die Athleten nun gemeinsame Spiele in der neu gebauten Eisarena bestreiten. Der futuristische Rundbau ragt weit sichtbar aus der von Kieferbäumen gesäumten Landschaft empor. Neue Apartmenthäuser säumen die noch leeren Straßen. Aus der Ferne betrachtet muten sie wie graue, gleichförmige Dominosteine an. Salzige Luft kündet vom Ostmeer, das nur einen Steinwurf entfernt ist. Es ist wahrlich ein symbolischer Ort für die sportliche Wiederbegegnung der zwei Koreas: Im September 1996 ging nahe Gangneung ein nordkoreanisches Spionage-U-Boot auf Grund, das versucht hatte, südkoreanische Militärbasen zu infiltrieren. Die Besatzung musste an Land flüchten; eine 49-tägige Verfolgungsjagd folgte, bei der am Ende zwölf Nordkoreaner und acht Südkoreaner ums Leben kamen. Selten schien ein neuer Krieg auf der koreanischen Halbinsel wahrscheinlicher als in jenen Tagen.

Woo Seung Yep, ein hagerer Mann mit nachdenklichem Blick und zaghafter Stimme, durchforstete damals als junger Wehrrekrut die bergige Küstenregion auf der Suche nach den nordkoreanischen Spionen. »Davor habe ich nie ernsthaft über Krieg nachgedacht. Das kannte ich höchstens aus den Nachrichten«, sagt der 44-Jährige. Seit damals fragte sich Woo jedoch, wie er seine Familie im Ernstfall schützen könne. Antworten fand der gelernte Informatiker weder bei den desinteressierten Behörden, noch unter seinen entnervten Freunden. Auch als der Norden in den Folgejahren sein Atomprogramm weiter vorantrieb, blieben die Südkoreaner gelassen.

Woo Seung Yep aber kaufte Essensrationen für mehrere Wochen und eine Gasmaske, suchte nach dem nächstgelegenen Schutzbunker und lernte, wie man Wasser reinigt. Vor sechs Jahren kündigte er schließlich seinen Job. »Ich fühlte eine Art Pflicht, mein Wissen weiterzugeben.« Zwei Bücher zu Überlebensstrategien im nuklearen Ernstfall hat Südkoreas erster Prepper verfasst. Er hält Vorträge an Schulen, arbeitet mit Feuerwehrwachen und wird von Fernsehsendern interviewt. Sein Onlineforum hat mehr als 20 000 aktive Mitglieder.

Als Hysteriker oder Kriegstreiber sieht er sich nicht. Vielmehr möchte Woo darauf aufmerksam machen, wie leicht die Eskalationsspirale zwischen US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un außer Kontrolle geraten kann. Also rät er zur Vorsicht: Die innerkoreanische Annäherung rund um die Olympischen Spiele könne schon bald wieder vorüber sein.

In Pyeongchang scheint sich derzeit niemand um einen militärischen Konflikt während der Spiele zu sorgen. Die Studentin Han Eun Hee sagt, Nordkoreas Teilnahme sei prinzipiell eine gute Sache. In rotweiße Skianzüge gekleidet, huscht die 19-Jährige mit zwei Freundinnen über den Hauptplatz der Alpensia-Anlage in Richtung Mensa. Als freiwillige Helferin wird sie während der Winterspiele die sozialen Netzwerke mit Foto-Schnappschüssen und lustigen Anekdoten befeuern.

»In unserer Generation beschäftigen wir uns im Grunde wenig mit Nordkorea. Eine Wiedervereinigung wollen die wenigsten«, sagt Han. Viele ihrer Altersgenossen würden sich zuallererst sorgen, dass eine Wiedervereinigung große Opfer mit sich bringen würde. Laut konservativen Schätzungen ist Südkoreas Bruttoinlandsprodukt mittlerweile 40 Mal so groß wie das des bitterarmen Nachbarn im Norden. Wird über eine mögliche Wiedervereinigung berichtet, stehen vor allem wirtschaftliche Kosten im Mittelpunkt.

Gleichzeitig würden Millionen vergleichsweise gut ausgebildete Nordkoreaner auf den ohnehin umkämpften Arbeitsmarkt drängen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist schon jetzt auf Rekordniveau, denn fast 80 Prozent der südkoreanischen Jugend schließen eine Universitätsausbildung ab und versuchen dann in einem der großen Mischkonzerne à la Samsung und LG unterzukommen. Kleinstbetriebe hingegen sind unbeliebt, da sie oft nur einen Bruchteil des Lohns zahlen und keine soziale Anerkennung versprechen. Ein gesunder Mittelstand konnte sich ob der dominanten Großkonzerne nicht entwickeln. Und der Sozialstaat ist noch immer nur rudimentär entwickelt. Han Eun Hee hält eine Wiedervereinigung trotzdem »langfristig für eine gute Sache«.

Nur wenige Minuten entfernt zeigt sich die benachbarte Ortschaft Daegweollyeong von seiner schönsten Seite: Einstöckige Backsteinhäuser säumen verkehrsberuhigte Straßen, ein zugefrorener Bach schmiegt sich an den Ortskern. Die Restaurants servieren »Hwangtae« - Seelachs, der den Winter über zum Trocknen in den Bergwind gehängt wird.

Der 53-jährige Kim Ik Ne kann der dörflichen Idylle jedoch nur wenig abgewinnen. Mit seinen Kollegen sitzt er in der örtlichen Taxizentrale, trinkt Pulverkaffee aus Pappbechern und wartet auf Kundschaft. Die bleibt an diesem Nachmittag jedoch aus. »Normalerweise machen wir während der Wintersaison den meisten Umsatz«, sagt er in schwerem Lokaldialekt. Herr Kim trägt eine getönte Brille, sein Gesicht wird von tiefen Furchen gezogen. »Dieses Jahr jedoch kommen kaum Touristen, denn das Skiressort ist für die Öffentlichkeit gesperrt. Für uns bedeuten die Olympischen Spiele vor allem ein saftiges Minus«, sagt er. Und wenn die Besucher zu den Spielen endlich eintreffen werden? »Das IOC hat mehr als tausend Shuttle-Busse organisiert, die zum nächsten Bahnhof fahren. Wir werden kaum gebraucht«, sagt der Taxifahrer. Seine Kollegen nicken stumm.

Viele Einwohner von Pyeongchang verbinden mit den Olympischen Spielen dennoch die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung für die abgelegene und eher rückständige Gegend. Als die Kohlebergwerke in den frühen 80er Jahren schließen mussten, fiel die wichtigste Industrie der Gangwon-Provinz weg. Zudem ist die von Bergen zerklüftete Region schlecht angebunden an die wirtschaftlichen Ballungsräume Südkoreas, bis auf Landwirtschaft und Tourismus gibt es kaum Einnahmequellen für die Bevölkerung. Daher war die Eröffnung einer Hochgeschwindigkeitszugstrecke im vergangenen Dezember ein wichtiger Meilenstein für die Region. Sie verbindet die Hauptstadt Seoul mit der Küstenstadt Gangneung. In nur zwei Stunden ist man da.

Wenn dort in wenigen Tagen die ersten Wettbewerbe starten, geht für die Mittvierzigerin Choi Ji Eun nicht weniger als ein Lebenstraum in Erfüllung. Sie half als Freiwillige bei der Vorbereitung der Spiele und führt Touristen durch das Eisfestival am Rande der Ortschaft Daegwanyeong. Riesige Schneelabyrinthe wurden auf dem Gelände aufgebaut, ein überlebensgroßer weißer Tiger - das Maskottchen der Winterspiele - lächelt den Besuchern zu.

»Als Kind wollte ich nur so schnell wie möglich von hier weg«, sagt Choi Ji Eun mit einem Lächeln. Damals hätten alle Schulkameraden so gedacht. Ihre Heimat habe sie als provinziell empfunden, die Winter als zu windig und kalt. Nach ihrem Schulabschluss zog Choi daher nach Seoul, sie studierte und bewarb sich für einen Bürojob. »Als ich nach fast zwanzig Jahren in der Zeitung las, dass sich Pyeongchang als Gastgeber für die Olympischen Spiele bewirbt, bin ich wieder zurückgekehrt. Die Winterspiele geben den Menschen hier Hoffnung auf eine glückliche Zukunft«.

Trotz aller Infrastrukturmaßnahmen liegt die alpine Jeongseon-Abfahrt immer noch überaus abgelegen. Der Schweizer Pistenarchitekt Bernhard Russi hatte vor einigen Jahren insgesamt 30 Helikopterflüge durch die Berge der Gangwon-Provinz gebraucht, bis er einen geeigneten Hang gefunden hatte, der die olympische Anforderung von mindestens 800 Metern Höhenunterschied erfüllt. Dann jedoch schritten Umweltschützer ein, um einen der ältesten, zusammenhängenden Wälder der Region zu schützen. Bereits vor 500 Jahren wurde hier für den Königshof Ginseng angepflanzt, in der schamanistischen Folklore gilt der Berg zudem als heilig. Um die Rodungen zu minimieren, wurde auf eine Extraabfahrt für die alpinen Skifahrerinnen diesmal größtenteils verzichtet. Dies wiederum lässt beim dichten Terminkalender wenig Spielraum für Verschiebungen, sollte das Wetter mal nicht mitspielen. Deshalb musste zusätzlich eine fast drei Kilometer lange Flutlichtanlage für Nachtfahrten gebaut werden.

Angesichts der bescheidenen Wintersporteuphorie in Südkorea wirken solche Bauprojekte geradezu dekadent: Nach den Olympischen und Paralympischen Spielen werden die Liftanlagen ohnehin wieder abgebaut und der Berghang aufgeforstet. Zumindest bleibt der Anlage damit ein ähnliches Schicksal erspart wie dem 2006 bankrott gegangenen Skiressort in Goseong, nur 100 Kilometer nördlich. Dort stehen noch immer die verlassenen Bauruinen in der malerischen Landschaft.

Fabian Kretschmer, 1986 in Berlin geboren, hat Publizistik in Wien, Shanghai und Seoul studiert. Seit 2010 arbeitet er als freier Journalist: zunächst in China, seit 2014 als Korrespondent in Seoul. Von dort aus berichtet er über Süd- und Nordkorea.

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