Der Kampf um Lebensmittel wird härter

»Die Tafeln« unterstützen 1,5 Millionen Bedürftige mit Lebensmittelspenden - vor 25 Jahren begann alles in Berlin

  • Anja Sokolow
  • Lesedauer: 3 Min.

Mannshoch türmt sich verdorbenes Gemüse vor der Lagerhalle der Berliner Tafel. Alles, was die Helfer aussortieren, kommt in einen Container. »Mit Hilfe von Holzkohle produzieren wir jetzt wertvolle Komposterde für ökologische Landwirtschaft, sogenannte Terra Preta«, sagt Tafel-Gründerin und -Vorstand Sabine Werth.

Alles, was brauchbar ist, kommt hingegen aus Pappkartons in saubere Kisten, um später an Bedürftige verteilt zu werden: Obst, Gemüse, Brot, Brötchen, Joghurt, Wurst - Ware, die die Händler nicht mehr verkaufen oder die auch andernorts nicht mehr gebraucht wird. Selbst Shampoo- und Duschgelflaschen, die Fluggäste in Tegel bei der Sicherheitskontrolle abgeben mussten, werden neu verteilt.

Vor 25 Jahren hat Werth erstmals Brot und Brötchen bei Bäckern eingesammelt und an Obdachloseneinrichtungen verteilt. Was als Hilfsaktion mit einigen Aktiven und Privatautos begann, hat sich zu einer der größten Hilfsbewegungen deutschlandweit entwickelt. Pro Monat verteilen in Berlin 2000 Ehrenamtliche 660 Tonnen Lebensmittel an 125 000 Bedürftige. 26 hauptamtliche Mitarbeiter organisieren die Arbeit, inzwischen gibt es auch einen Fuhrpark.

»Bundesweit existieren aktuell 937 Tafeln«, sagt Stefanie Bresgott vom Dachverband »Die Tafeln«. 1,5 Millionen Menschen nutzen die Angebote regelmäßig, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senioren, Arbeitslose, Studenten, Flüchtlinge.

Die Existenz eines solchen Almosensystems in einem reichen Land sei ein politischer Skandal, kritisiert dagegen der Soziologe Stefan Selke. »Sie sind der Pannendienst einer sozial erschöpften Gesellschaft, die immer mehr ihrer Mitglieder als Überflüssige abspeist«, sagt er.»Tafeln verringern eindeutig den Druck, solidarisch gegen Armut zu kämpfen.«

Auch aus Sicht des Wuppertaler Wissenschaftlers Holger Schoneville lösen Tafeln keine grundlegenden Probleme. »Sie stellen für die Betroffenen eine lebensnotwendige Hilfe bereit und sind zugleich Teil von sozialen Ausgrenzungsprozessen, die die Würde der Nutzer berührt«, sagt er.

Immerhin sei die Armut für die Politik ein Thema geworden, meint Sabine Werth. »Als wir in der Kohl-Ära anfingen, gab es sie offiziell nicht«, erinnert die 62-Jährige. Heute dagegen werde es immer schwieriger, Lebensmittel für eine steigende Zahl Bedürftiger einzusammeln. Denn auch die Händler hätten gemerkt, dass ihr System falsch sei, bei den Produzenten selbst falle weniger Überschuss an.

Auch die Konkurrenz unter den Tafeln wachse. »Die regionalen Grenzen werden gern mal überschritten. Wir kannibalisieren uns da gegenseitig«, sagt Werth. Sie sucht deshalb mit ihrem Team nach neuen Wegen für die Zukunft - nicht nur mit dem Abfallprojekt, mit dem die spendenfinanzierte Tafel jetzt auch Entsorgungskosten spart. Kinder und Jugendliche, die Konsumenten von morgen, sollen lernen, bewusster mit Lebensmitteln umzugehen, sagt sie. Dem dient das Projekt »Kimba«, bei dem ein Doppeldecker-Bus regelmäßig an Schulen unterwegs ist und unter anderem Kochkurse organisiert.

Sichtbar wird die Tafel-Arbeit vor allem in den Ausgabestellen. In Berlin heißen sie »Laib und Seele« und unterstützen gut 50 000 Bedürftige. Sogar im heute eher bürgerlichen Stadtteil Prenzlauer Berg stehen jeden Mittwoch Menschen mit Wartenummern vor der Advents-Zachäus-Kirchengemeinde. Unter ihnen eine russlanddeutsche Rentnerin, bei der das Geld knapp ist, weil ihr nur 19 von 45 Berufsjahren angerechnet wurden. Und eine arbeitslose Lehrerin, die mit ihrem zweijährigen Sohn, die vor ihrem gewalttätigen Partner in ein Frauenhaus geflüchtet ist, sagt: »Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals zur Tafel gehen würde.« In ihrer jetzigen Krise helfe es ihr, so die 37-Jährige.

»Solange es Ungerechtigkeit, Überfluss und Mangel gibt, solange wird sich keine Tafel abschaffen, nur weil irgendjemand behauptet, es dürfe sie in einem reichen Land gar nicht geben«, sagt Sprecherin Bresgott. Ans Aufgeben denk sie nicht. dpa/nd

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