Herausgefallen aus dem Kulturbetrieb

Der Berliner Dichter Jochen Berg war Hausautor des Deutschen Theaters, ist heute aber weitestgehend in Vergessenheit geraten. Am 25. März wäre er 70 geworden

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt keinen Anlass, diesen überaus eigensinnigen und begabten Menschen zu vergessen, dem es am Ende so dreckig ging und der schwer angeschlagen um sein Leben bangte. Jochen Berg starb 2009, viel zu jung. Er war so krank und voller Ängste, es gehe nun zu Ende, dass er aus seiner Wohnung in Prenzlauer Berg mehr als nötig den Notdienst anrief. Dadurch war er häufiger im Krankenhaus, als ihm lieb war. Aber die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen.

Geboren wurde er am 25. März 1948 im thüringischen Bleicherode, wo der Kalibergbau ansässig war und noch heute in Relikten fortbesteht. Die Eltern wollten, dass er dort eine Lehre beginnt. Die brach er ab. Es zog ihn zur Schauspielerei. Doch seine Ausbildung an der Schauspielschule Berlin-Oberschönweide, Vorläuferin der »Ernst Busch«-Schauspielhochschule, ließ er nach zwei Jahren gleichfalls fahren. Das sollte keineswegs so weitergehen. Seine Talente sollten zur Entfaltung kommen. Schon im frühen Jugendalter suchte er nach individuellem Ausdruck und schrieb Verse und Geschichten. Was ist das, Welt? Albdruck, Nacht, Traum? Der scharf denkende Jochen Berg begnügte sich nie mit Einzelerscheinungen, er streifte wie die hellsichtigen Dichter auf Horizonten. Es gehe darum, »wie die Welt geartet ist«.

Er wurde ein Dichter und schrieb fortan Kurzgeschichten, Gedichte, Glossen, Einakter, Hörspiele, Spielfilm-Szenarien - und kam mit den meisten Sachen nicht durch. Eine Filmidee nannte er »der schmeichler vom Schlachthof« (1975). Die geht kurzgefasst so: Der zwar zart gebaute, aber zähe junge Schlachthofarbeiter, von Frauen ob seines Berufs gemieden, träumt von einer großen Erfindung. Die offenbart sich dem Schlafenden als ein Gerät, das den Tieren, bevor sie tot hängen, das Blut absaugt. Also kein Strahl Blut mehr vor den Augen. Er führt das Ding erfolgreich vor und gilt fortan im Kollektiv als Begründer des Schlachthumanismus. Hofiert und hochgeehrt, entsteht aus der Idee ein neues Schlachthaus. »Eine einzigartige Komposition.« Der Schlachthof wird zum Stillleben, und die Schlächter wirken wie Künstler, Bildhauer. Die Arbeitsproduktivität steigt rasant. Der Erfinder wird noch höher geehrt und sein Frauenproblem ist beseitigt. Er heiratet, soll von der Partei eine Neubauwohnung verpasst bekommen. Aber er weigert sich. Man wolle ihn in ein Klischee pressen, sagt er. Mit einem Freund nimmt er Reißaus. Aber der Schlachthof erhält Nachricht davon, und um nicht in Misskredit zu geraten, deklariert die Leitung die Reise als Dienstreise. Plötzlich werden die beiden überall mit Girlanden und Blasmusik willkommen geheißen. Um nicht erkannt zu werden, maskieren und verkleiden sie sich. Der Träumende schlüpft in einer Dorfkneipe in die Rolle des weißhaarigen, leicht senilen Charlie Chaplin. Die Bauern trinken freundlich mit ihm Bier. Aber ein auf ihn begieriges Mädchen erkennt ihn: »Komm herunter zu meinen Brüsten.« In dem Moment sieht er verschwommen, wie einer vom Schlachthof ein totes Schwein sticht und ein Blutstrahl direkt auf ihn zuspritzt. Seine Kollegen um ihn herum stoßen schließlich ein langes, schallendes Lachen auf den Blutüberströmten aus. Ende. - Über ein Dutzend solch phantastischer, extreme Lebenslagen nicht aussparende Filmideen bot er der DEFA an. Berg legte Wert darauf, zu sagen, sie seien verboten worden.

Gleiches wiederfuhr auch seinen anspruchsvollen, geschliffenen Werkangeboten als Hausautor am Deutschen Theater (1974 - 1991). Da diese wie die Filmskripte sprachlich radikal und systemkritisch ausfielen, entfielen sie entweder, oder Probenprozesse wurde abgebrochen. Er fiel als Person (»schräger Vogel«) und Künstler heraus aus dem Betrieb.

Nur für kurze Zeit glaubte Jochen Berg, nach der Wende würde es ihm als Autor grundsätzlich besser ergehen. Heiner Müller bot ihm 1990 an, den Brecht’schen »Glücksgott«-Stoff, an dem Müller selber und Paul Dessau sich schon die Zähne ausgebissen hatten (eine Oper sollte daraus entstehen), neu zu fassen - doch auch dies ging schief. Immerhin kam davon eine Art Improvisation/Performance mit Uli Gumpert zu den Brechttagen 1992 auf die Probebühne des Berliner Ensembles. Titel: »Glücksgott Geschehen«. Im Kino Babylon gelangte gleichen Jahres sein Schauspiel »Fremde in der Nacht« zur Uraufführung, eines der ersten Stücke nach der Wende. Frank Castorf inszenierte es widersinnig, schlampig, desaströs, was den Schreibantrieb des Autors fast lahmlegte. Dem eigenen Dasein neuen Sinn zu verleihen, lehrte Jochen Berg von 1995 bis 2000 an der »Kunsthochschule Burg Giebichenstein« Halle. Seine dichterische Produktion erschöpfte sich bis zuletzt in kleinteiligen Formen und resignierenden Reflexen auf eine wankende, ungestalte Welt.

Aus musikalischem Hause kommend (sein Großvater war Geiger und Dirigent, der Jugendliche selbst blies Trompete und Flügelhorn), blieben seine Musikbedürfnisse breit gestreut. Monteverdi, Bach, Wagner hörte er genauso gern wie John Cage oder The Beatles. Seine vier Kurzopern »Die Engel« entwickelte er zusammen mit Uli Gumpert. Die konzertante Uraufführung fand 1988 in der verdienstvollen Berliner Reihe »Jazz in der Kammer« (Leitung: Martin Linzer) statt. Im Herbst 1989 brachten Berg und Gumpert das Werk in New York mit dort ansässigen Jazzmusikern auf die Bühne (Bühne und Ausstattung: Heike Stephan). Das Jazzfest Berlin 2014 ermöglichte eine vielbeachtete Reprise.

Jochen Bergs Nachlass ist umfangreich (Stücke, Hörspiele, Gedichte, Prosaarbeiten, Essays, Pamphlete, Briefe, über 200 Zeichnungen). Das meiste, auch Kassetten und Tonbänder, liegt im Jochen-Berg-Archiv der Akademie der Künste Berlin. Der Rest befindet sich in Obhut des Klangkünstlers und Musikwissenschaftlers Manfred Machlitt, der mit dem Autor eng befreundet gewesen war. Er glaubt, die Zeit sei reif, mindestens die hochentwickelten Dramen des Dichters nach antiken Stoffen wiederzuentdecken, wozu auch »Die Phönizierinnen des Euripides« (Drei Masken Verlag 1981) gehören. Recht hat er. Bühnen sollten sich ihrer endlich würdig erweisen.

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