Für eine Flüchtlingspolitik, die allen hilft

Die LINKE muss sich mit der Bekämpfung von Fluchtursachen auseinandersetzen, sagen Jan Marose und Malte Heidorn

  • Jan Marose und Malte Heidorn
  • Lesedauer: 8 Min.

Die internationale Flüchtlingspolitik ist heute selbst zu einer Fluchtursache geworden. 135:1 ist das Missverhältnis der globalen Flüchtlingshilfe. Auf 135 Dollar, die an Unterstützung für einen Flüchtling im Industrieland ausgegeben werden, kommt nur ein Dollar für einen Flüchtling im Entwicklungsland. Die Welt ist aus den Fugen und Fluchtgründe werden noch zunehmen. Wir brauchen eine Reform: ein Immunsystem gegen die Folgen von Kriegen und Krisen, eine globale Infrastruktur, die allen Flüchtlinge hilft.

Aus den Augen, aus dem Sinn? Viele Flüchtlinge kommen nicht mehr nach Europa. Die Probleme sind damit aber keineswegs aus der Welt. Im Gegenteil! 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die meisten finden Zuflucht im eigenen Land. Etwa 21 Millionen Menschen sind Flüchtlinge, die Grenzen überquert haben. Das 21. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch Flucht und Vertreibung. Kriege, Konflikte, Krisen, Klimawandel und zerfallende Staaten: All diese Ursachen werden leider nicht so schnell verschwinden, sondern zunehmen und Millionen Menschen auch in den nächsten Jahrzehnten zur Flucht zwingen. Die aktuelle internationale Flüchtlingspolitik ist mit dieser Situation jedoch völlig überfordert. Schlimmer noch: Sie ist so desolat, dass sie selbst zu einer Fluchtursache geworden ist. Vielerorts ertragen die Menschen die hoffnungslose Situation in den Lagern nicht und fliehen erneut. Es ist notwendig, die Flüchtlingshilfe grundlegend zu reformieren und ein globales System aufzubauen, das allen Flüchtlingen hilft.

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Dafür ist jedoch ein Perspektivwechsel nötig – auch bei uns. Denn im Mittelpunkt unserer Flüchtlingspolitik steht oft eher die Migration als die Lage der Flüchtlinge. Alexander Betts und Paul Collier begründen in ihrem aktuellen Buch »Gestrandet«, dass es für die internationale Gemeinschaft durchaus möglich ist, die Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene nicht nur humanitär zu versorgen, sondern ihnen Hoffnung und Perspektive zu geben. Davon ist die Welt jedoch entfernter denn je. Heute gibt sie jedes Jahr etwa 75 Milliarden Dollar für die zehn Prozent der Flüchtlinge aus, die die Industriestaaten erreichen und nur etwa fünf Milliarden Dollar für die restlichen 90 Prozent, die in Entwicklungsländern verbleiben.

Die aktuelle Flüchtlingspolitik geht an den Bedürftigsten vorbei

Mehrheitlich bekommen die Flüchtlinge dieser Welt sogar keinerlei materielle Unterstützung. Gerade jene Länder, die die geringsten Kapazitäten haben, aber die größte Last tragen, erhalten kaum Aufmerksamkeit und viel zu wenig Mittel. Wenn dieses Missverhältnis nur etwas ausgeglichen würde, könnten Millionen Menschen im Nahen Osten und anderswo aus ihrem Elend gerettet, viel besser versorgt und Fluchtursachen gemindert werden. Allein diese Zahlen anzuklagen, gilt jedoch in manchen linken Diskussionen schon als verdächtig, weil es auf eine stärkere Hilfe vor Ort und nicht hierzulande hinauslaufen würde. Wir brauchen eine Versachlichung unserer Debatte: Maßstab linker Politik muss es immer sein, sich sowohl hierzulande als auch global an die Seite der Schwächsten zu stellen. Die Hilfe für die Mehrheit und die Bedürftigsten unter den Flüchtlingen weltweit darf nicht aus dem Blick geraten. Insofern muss unsere Flüchtlingspolitik internationalistischer werden.

Merkels Flüchtlingspolitik ist bis auf eine Ausnahme komplett falsch

Zentral für diese Diskussion ist der Rückblick auf die Flüchtlingskrise. Bis auf Merkels Entscheidung vom September 2015 – hier ist ihr übrigens kein Vorwurf zu machen, sich auf europäischer Ebene nicht abgesprochen zu haben – , tausende Flüchtlinge aufzunehmen, die auf der Autobahn von Budapest nach Deutschland zu Fuß unterwegs waren, war ihre gesamte Politik davor und danach falsch. Sicherlich war nicht alles so beabsichtigt, aber die Folgen ihrer Entscheidungen sind katastrophal.

Erstens hat die Bundesregierung 2014 mitten im syrischen Bürgerkrieg die Hilfszahlungen an das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR halbiert statt sie großzügig mit anderen EU-Staaten auszuweiten, was Menschen erneut in die Flucht trieb, weil Essensrationen gekürzt wurden.

Zweitens war es falsch, im August 2015 vor Budapest ohne Absprache mit dem Rest der EU im Alleingang das Dublin-Abkommen auszusetzen. Selbstverständlich ist das Dublin-System aus linker Sicht nicht zu befürworten. Unstrittig ist aber auch, dass erst durch diese Entscheidung viele Menschen verständlicherweise die Chance ergriffen und sich auf den Weg machten. Noch mehr sind daraufhin im Mittelmeer ertrunken.

Drittens hat Merkel danach panisch einen Kurswechsel vollzogen und einen schmutzigen Deal mit der Türkei gezimmert, der Flüchtlinge zu Geiseln und die Bundesregierung erpressbar macht und der als schlechtes Vorbild für weitere Abkommen mit afrikanischen Staaten dient.

Viertens hatte die chaotische Politik der Bundesregierung und der EU-Kommission zur Folge, dass die Brexit-Befürworter mit dem Kontrollverlust in Europa zusätzlich Stimmung gegen die EU machen konnten.

Fünftens hat Merkels Politik hierzulande Flüchtlinge und Einheimische gegeneinander ausgespielt und Konkurrenz um Jobs, Wohnungen, Sozialleistungen und abgelaufene Lebensmittel geschürt statt Verbesserungen für alle durchzusetzen.

Sechstens wird Syrien der qualifizierteste Teil seiner Bevölkerung für den Wiederaufbau nach Kriegsende fehlen, während gleichzeitig vier Millionen Syrer ohne ausreichende Unterstützung in den Nachbarländern hausen und darunter 43 Prozent der Kinder laut dem UNO-Kinderhilfswerk UNICEF seit Jahren keine Schule besuchen, weil schlicht Geld fehlt.

Die Flüchtlingskrise war kein »Sommer der Migration«, sondern eine politische und menschliche Tragödie, die nicht beendet ist.

Schutz, Würde, Autonomie und Bildung für alle Flüchtlinge

Betts und Collier schreiben: »Auf der ganzen Welt ist das die schreckliche Wahl, vor die wir die Flüchtlinge stellen: jahrelanges Lagerleben, Armut in der Stadt oder eine lebensgefährliche Reise. Für die Flüchtlinge sind diese drei Möglichkeiten das globale Flüchtlingssystem.« Diejenigen, die offene Grenzen für alle und globale Bewegungsfreiheit fordern, begründen das auch damit, das Denken in nationalen Räumen in Frage zu stellen. Leider hören wir aus dieser Richtung kaum etwas, um das Leben aller weltweiten Flüchtlinge zu verbessern.

Im Gegensatz zur Wiederherstellung des Sozialstaats hierzulande ist Flüchtlingspolitik in der Tat keine nationale, sondern eine globale Aufgabe. Deshalb brauchen wir als LINKE eine Position zur Reform des globalen Flüchtlingssystems, auch um Fluchtursachen zu bekämpfen.

Denn das UNHCR und die internationale Flüchtlingshilfe werden viel zu gering und nicht verlässlich über Jahre, sondern oft abhängig von Geberkonferenzen kurzfristig unterstützt und sind dadurch chronisch unterfinanziert. Allein die NATO-Staaten geben jährlich fast 1000 Milliarden für Militär und Rüstung aus. Wenn davon nur ein Prozent abflösse, wäre das eine Verdreifachung der bisherigen Mittel. Dann könnte das UNHCR auch andere Aufgaben übernehmen. Denn laut Betts und Collier ist das Hauptproblem das bisherige Lagersystem an meistens unwirtlichen Orten, das sich auf mangelhafte humanitäre Hilfe beschränkt. Menschen werden in Flüchtlingslagern geboren und werden dort erwachsen. Dieses Lagerleben muss durch von den reichen Staaten finanzierte und mit Handelserleichterungen unterstützte Sonderwirtschaftszonen ersetzt werden, in denen Flüchtlinge an der Seite von Staatsbürgern arbeiten und Unternehmen gründen dürfen.

Es geht um Autonomie und Arbeitsplätze in der Nähe der Herkunftsstaaten statt jahrzehntelanger Abhängigkeit von humanitären Gütern sowie um Würde und Ermächtigung, wenn Flüchtlinge ihre Familien versorgen, berufliche Qualifikationen einsetzen, weiterentwickeln und einen gesellschaftlichen Beitrag in den Aufnahmeländern leisten könnten.

Ziel muss es sein, mit einer Reform Vorteile für alle Akteure zu bringen: für die globalen Flüchtlinge, für die Aufnahmeländer in unmittelbarer Nähe der Konflikte, die ökonomisch profitieren müssen statt wie bislang auf den Rechnungen sitzen zu bleiben und für die Herkunftsstaaten mit Blick auf den Wiederaufbau und den Ansprüchen jener, die zurückbleiben und zurückkehren und deren Fähigkeiten bis dahin nicht brachliegen sollten. Flüchtlingspolitik darf nicht allein als humanitäre Frage, sondern muss als entwicklungspolitische Chance begriffen werden.

Weder neue Mauern, noch offene Grenzen für alle sind die Lösung

Die Welt ist aus den Fugen geraten und Fluchtursachen werden in den nächsten Jahrzehnten eher noch zunehmen. Selbstredend müssen Waffenexporte verboten werden. Allein dies wird jedoch nicht reichen: Wir brauchen eine internationale Architektur, ein globales Immunsystem gegen die Folgen von Kriegen, zerfallenden Staaten, Klimawandel. Wenn sich die soziale Frage aufgrund zunehmender Vernetzung für die gesamte Menschheit stellt, sind weder neue Mauern noch offene Grenzen für alle die Lösung. Sondern neben Armutsbekämpfung, gerechtem Handel, Entwicklungs- und Friedenspolitik eine weltweite Infrastruktur, ein Netz zur Rettung und zum Schutz aller globalen Flüchtlinge, ein Netz, das auch die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Herkunftsländer nach Beendigung der Kriege und Konflikte wiederaufgebaut werden können.

»Globale Bewegungsfreiheit ist nicht nur ethisch geboten, sondern strategisch notwendig, um globale Kräfteverhältnisse im emanzipatorischen Sinne zu verschieben«, hieß es zuletzt in der Debatte im »nd«. Beides halten wir für falsch. Erstens ist eine globale Pflicht zur Hilfeleistung für alle Flüchtlinge ethisch geboten statt einer globalen Bewegungsfreiheit, die gerade diejenigen nicht in Anspruch nehmen können, die sie am dringendsten bräuchten. Zweitens meinen wir mit Betts und Collier: »Wenn unser Ziel eine gerechte Verteilung des weltweiten Wohlstands ist, so wäre Einwanderung ein außerordentlich ineffektives Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.«

Jan Marose und Malte Heidorn sind Mitglieder des Forums demokratischer Sozialismus in der LINKEN und Mitarbeiter im Bundestagsbüro von Matthias Höhn.

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