Scheitern als Chance

Bouldern ist Sahnehäubchen-Alpinistik, und Linus Lüderitz gehört zu den Spitzenkletterern

  • Lesedauer: 4 Min.

An präparierten Wänden unterm Dach hangeln: Ist das Freeclimbing für Warmduscher?

Dass sich die Aktiven vor einer bestimmten Höhe ängstigen, glaube ich nicht (lacht). Indoor-Bouldern ist vielmehr eine spezielle Variante des Kletterns ohne Seil. Ähnlich gibt es das auch draußen an echten Felsbrocken.

Und was unterscheidet Outdoor-Bouldern vom Freeclimbing?

Das Freiklettern kennt keine Begrenzung nach oben. Im Bouldern gilt dagegen ein Limit: nämlich die Höhe, aus der du noch ohne Verletzungsgefahr abspringen kannst. Folgerichtig sind die Wände in Kletterzentren genormt auf viereinhalb Meter vertikale Länge.

Und in der Natur?

Draußen gelten weniger strenge Gesetze: Ich selber bin bisher auf gut fünf Meter gekommen. Manchen Bouldersportlern reicht das nicht, die versuchen sogenannte »Highballs« zu erreichen, in acht bis neun Metern Höhe. Das aber ist schon »No Fall Zone«, aus der du besser nicht mehr runterfällst.

Wie ist Ihr Verhältnis zu den, sagen wir mal: echten Kraxlern? Erntet die Hallenfraktion da nur ein mildes oder gar müdes Lächeln?

Keineswegs. Wir sind längst eine emanzipierte Disziplin, die den Athleten absolut fordert. Etwa auch bei den eindrucksvollen Sprüngen, die am Berg kaum möglich sind.

Leben die Enthusiasten dabei Kinderträume aus? Und fühlen sich ein bisschen wie Spiderman?

Klar, das hat einen spielerischen Aspekt, aber wichtig ist auch die sportliche Seite. Verschiedene Farben - von Weiß für leicht bis Schwarz für extrem tricky - markieren die Griffe und Tritte an den Wänden. Auf diese Weise werden unterschiedliche Kletterpfade vorgegeben, die »Boulderprobleme« heißen. Und hast du eins geknackt, kann das echt Euphorie auslösen.

Wahrscheinlich sind Sie selber bereits als Kind viel geklettert.

Bei einem Familienurlaub im Elbsandsteingebirge, ich war acht Jahre alt, hatte es einst ununterbrochen geregnet. Damit war Klettern für mich lange erledigt. Später widmete ich mich dem Kampfsport Wing Chun und dem Yoga. Erst vor vier Jahren, als ich Sportwissenschaften und Philosophie in Bremen studierte, nahmen mich Kommilitonen mit in eine Boulderhalle. »Das soll cool sein?! Kann ich mir nicht vorstellen!«, unkte ich noch, aber hinterher holte ich mir sofort eine Monatskarte.

Ein bemerkenswerter Späteinstieg. Vor dem Hintergrund, dass Sie inzwischen zur nationalen Leistungsspitze gehören.

Stimmt. Immerhin waren Wing Chun und Yoga eine indirekte Vorbereitung: Sie haben mein Körpergefühl geprägt, und davon profitiere ich heute. Meine Bewegungen sind fließend, gewissermaßen im Flow, wie wir sagen, und zugleich präzise, das ist die Schule von Wing Chun und Yoga. Die helfen mir, eine neue schwierige Route, an der ich zuvor gescheitert bin, schließlich doch zu packen.

Inzwischen sind Sie ja auch Chefroutenbauer der Hamburger »Urban Apes«. Haben Sie schon mal ein Boulderproblem ausgetüftelt, das Sie später persönlich partout nicht in den Griff bekamen?

Ja klar, einige! Das gehört zum Job eines Routenbauers: ohne falsche Eitelkeit über dem eigenen Niveau zu schrauben.

Bekommen anfangs auch mutige Leute oben, wenn sie weder vor- noch zurückkönnen, Panik?

Passiert gelegentlich. Von unten versuchen wir, die Person auf den Hilfsabstieg zu lotsen, weil parallel zu jeder Route dafür extra dicke Vorsprünge angebracht sind. Falls das nicht funktioniert, gehen wir hoch, holen die oder den Betreffenden quasi ab.

Wie überwinde ich Anfangsangst?

Ein Neuling soll sich langsam nach oben tasten und schrittweise Selbstbewusstsein aufbauen.

Und falls man ab stürzt?

Halb so wild, am Boden liegen dicke Matten, die den Aufprall deutlich abmildern. Sie sollten die Arme vor der Brust verschränken und sich zu einer Art Kugel zusammenrollen. Aber auch das wird trainiert.

Fällt auch ein Profi mal runter?

Beinahe ständig! (lacht) Je härter man bouldert, desto öfter. Aber Scheitern ist bei uns eben Standard.

Scheitern als Chance, im Geist des unvergessenen Christoph Schlingensief?

Unbedingt. Bewegst du dich ständig in deiner Komfortzone, also ohne Absturz, wirst du dich nie verbessern. Du darfst dich nicht einschüchtern lassen, musst immer wieder angreifen. Das gibt dir die mentale Stärke, dass nicht das konkrete Problem dich bezwingt, sondern du das Problem.

Bouldern in Hamburg: www.urbanapes.de/hamburg

Bouldern in Deutschland: Infos unter www.alpenverein.de

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