»Die Polizei braucht eine Fehlerkultur«

Der Kriminologe Tobias Singelnstein will mit seinem Forschungsprojekt Erkenntnisse über Körperverletzung im Amt gewinnen

  • Justinian Levi Mantoan
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie forschen zu Körperverletzung im Amt. Wollen Sie damit Diskurse über die Polizei beeinflussen?

Uns geht es nicht in erster Linie darum, einen Diskurs zu beeinflussen, sondern wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über diesen Problembereich zu erbringen. Es gibt bisher keine empirisch belastbaren Informationen über das Anzeigeverhalten in diesem Bereich und auch über das Dunkelfeld wissen wir praktisch nichts. Das ist problematisch, weil das Dunkelfeld in diesem Bereich - im Vergleich mit anderen Delikten - besonders strukturiert sein dürfte.

Tobias Singelnstein

Tobias Singelnstein ist Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum. Dort forscht er derzeit über rechtswidrige Polizeigewalt. Es handelt sich um eine breit angelegte Studie zu Körperverletzungsdelikten durch Polizeibeamte, Viktimisierungsprozessen und dem Anzeigeverhalten von Geschädigten. Mit ihm sprach für »nd« Justin Mantoan.

Vor fünf Jahren schrieben Sie, dass es Polizeieinheiten gibt, in denen sich einschlägige strafbare Verhaltensweisen als Handlungspraxis etabliert haben. Was meinen Sie?

Wie Gewalt in der Praxis eingesetzt wird, hängt stark von Handlungsnormen der Dienststellen und jeweiligen Einheiten ab; hin und wieder gibt es Situationen, in denen man beobachten kann, dass es eine bestimmte rechtswidrige Praxis gibt, die in einer ganzen Einheit verbreitet ist.

Sie nennen Polizeigewalt ein gesellschaftlich relevantes Thema, aber viele Politiker und Polizisten reden von Gewalt gegen Polizisten - ein Ablenkungsversuch?

Vielleicht kann man nicht unmittelbar von Ablenkung sprechen. Aber ich glaube, man kann schon sagen, dass die Debatte über Polizisten als Opfer in gewisser Weise eine Antwort, vor allem der Polizeigewerkschaften, auf die verstärkte Thematisierung von Körperverletzung im Amt in der öffentlichen Debatte der vergangenen Jahrzehnte ist. Teile der Institution Polizei fühlen sich offenbar zu Unrecht beschuldigt und streben danach, ihre Position stark zu machen.

Sie kommen zu dem Schluss, dass Polizeigewalt ein strukturelles Problem sei. Was müssen Politik und Polizei tun, damit sich etwas daran ändert?

Ich glaube, dass der rechtswidrige Einsatz von Gewalt zur Polizei dazu gehört, weil sie jeden Tag tausendfach unmittelbaren Zwang einsetzt. Es wäre erstaunlich, wenn es dabei nicht auch zu Grenzüberschreitung kommen würde. Deshalb ist es das Wichtigste, dass sich Polizei und Politik bewusst machen, dass es dieses Problem gibt. Es muss in diesem Bereich zu einer Fehlerkultur kommen, die einen offenen Umgang mit einschlägigen Verhaltensweisen findet, anstatt es unter den Teppich zu kehren, wie es häufig geschieht.

Wie müsste eine solche Fehlerkultur aussehen?

Ich wünsche mir natürlich, dass es in der Polizei möglichst weitgehende Bestrebungen gibt, um Gewaltanwendungen außerhalb der gesetzlichen Befugnisse so weit es geht zu vermeiden und zu unterbinden. Dort, wo sie gleichwohl geschehen, gilt es, dies aufzuarbeiten und zu verfolgen. Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist, dass die Polizei anerkennt, dass sie an dieser Stelle ein Problem hat, das es zu bearbeiten gilt.

Sie sprechen über das Thema auch mit der Polizei, sogar in einem Beirat zu ihrem Projekt. Stoßen Sie auf Widerstand oder offene Ohren?

Beides. Die Polizei ist eine vielfältige Institution, in der Menschen mit sehr unterschiedlichen Haltungen und Motivationen tätig sind. Natürlich sind nicht alle Beamten von unserer Forschung begeistert. Das war zu erwarten. Wir erfahren aber auch sehr viel Interesse, Zuspruch und Ermutigung. Manche Beamte freuen sich sogar regelrecht, dass Gewaltanwendung außerhalb der gesetzlichen Befugnisse zum Thema gemacht wird.

Ermittlungsverfahren gegen Polizisten kommen oft schnell zum Erliegen. Wie ist das zu erklären?

Wir sehen in Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt sowohl eine außergewöhnlich hohe Einstellungsquote als auch eine äußerst geringe Anklagequote. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einerseits liegt in einschlägigen Verfahren häufig eine sehr problematische Beweissituation vor. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Polizeibeamte als Zeugen in der Praxis nur sehr selten gegen ihre Kollegen aussagen. Andererseits ist zu beobachten, dass die Staatsanwaltschaften in derartigen Verfahren für eine Anklageerhebung besondere Anforderungen an die Beweissituation stellen.

Bisher ermitteln Polizisten gegen Polizisten. Ist eine unabhängige Ermittlungsbehörde notwendig?

Es gibt einen Interessenkonflikt, wenn Polizisten gegen Kollegen ermitteln. Auch wenn sich die Beteiligten nicht persönlich kennen, wäre es sozialpsychologisch und menschlich höchst verwunderlich, wenn die ermittelnden Beamten ihren beschuldigten Kollegen nicht ein besonderes Verständnis entgegenbringen würden. Daher ist es für Ermittlungen in einschlägigen Verfahren umso besser, je unabhängiger die ermittelnde Instanz ist. In einigen Bundesländern gibt es bei der Polizei Dienststellen für interne Ermittlungen. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings wäre es wünschenswert, wenn auch eine vollkommen von der Polizei unabhängige Instanz entsprechende Vorwürfe untersuchen würde. Dies müsste aus meiner Sicht nicht zwingend mit dem Ziel eines Strafverfahrens erfolgen, sondern sollte vor allem der Transparenz und der gesellschaftlichen Debatte dienen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer ist vom bayerischen Polizeiaufgabengesetz begeistert. Er würde die Polizei am liebsten bundesweit mit ähnlichen Rechten ausstatten. Wie bewerten Sie das?

Als besonders problematisch empfinde ich die fortgesetzte Ausweitung des präventiven Gewahrsams, also der Freiheitsentziehung zu Zwecken der Gefahrenabwehr. Hier sind in den zurückliegenden Jahrzehnten die möglichen Zeiträume kontinuierlich ausgeweitet worden, in Bayern besteht bereits keine gesetzliche Obergrenze mehr für die Dauer des Gewahrsams. Zum anderen ist die geplante umfangreiche Einführung der neuen Kategorie der »drohenden Gefahr« hochproblematisch, da auf diese Weise polizeiliche Eingriffe ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich sind. Damit wird die Eingriffsschwelle für polizeiliche Maßnahmen massiv abgesenkt.

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