Lauter glückliche Fügungen

Paul Auster: Fast unglaublich, aber wahr - die Geschichten aus seinem »roten Notizbuch«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Als er acht war, nahm ihn der Vater zu einem Baseballspiel mit. Und was für ein Glück: Als sie die Tribüne verließen, kam ihm sein Idol Willie Mays entgegen. Der Kleine bat um ein Autogramm; es sollte ihm gewährt werden. Doch was für ein Unglück: Niemand hatte etwas zum Schreiben dabei. Seitdem, so Paul Auster, trage er immer Papier und Bleistift in der Tasche, was wohl dazu beigetragen haben möge, dass er später Schriftsteller wurde.

Glaub’s oder glaub’s nicht, es ist eine Geschichte, die sich gut erzählen lässt, beifälliges Lächeln der Zuhörer ist garantiert. Wobei Paul Auster schwört, dass alles, was er in seinem »roten Notizbuch« aufgeschrieben hat, ihm genau so geschehen ist oder ihm von Bekannten zugetragen wurde. »In meinem Leben sind Dutzende solch merkwürdiger Dinge vorgefallen, und ich komme einfach nicht los davon, auch wenn ich mir noch so viel Mühe gebe.«

Ein schmales Büchlein - umfangreicher allerdings als die erste deutsche Ausgabe von 1996, denn damals waren nur 15 Texte übersetzt worden. Jetzt, in der vollständigen Edition, sind es 25, die in ihrem leuchtend klaren Stil (da sei auch dem Übersetzer Werner Schmitz gedankt) für mitreißende Lektüre garantieren. Überraschungen, Zufälle, ja Fügungen: Das Geräusch von splitterndem Glas rief den Schriftsteller an eine Stelle, wo er seine kleine Tochter auffangen konnte, die gerade die Treppe herunterfiel. Dabei war er dorthin geeilt, um die Scherben einer zerbrochenen Vase aufzufegen. Eine aus dem Fenster geworfene Münze fand sich an völlig anderer Stelle wieder. Auf rätselhafte Weise landete ein Brief bei ihm, den irgendjemand anderes mit dem Namen Paul Auster unterzeichnet hatte. Vier Mal hatte er in seinem Leben eine Reifenpanne, und jedes Mal saß dieselbe Person neben ihm im Wagen. Ein Blitz spaltete einen Baum, der beinahe das Auto seines Vaters getroffen hätte, doch er hatte Glück - ebenso wie später, als eine Wäscheleine seinen Sturz von einem Hausdach bremste. Aber Unglück gibt es auch: Mit 14 in einem Sommerlager, erlebte Paul, wie neben ihm ein Junge durch Blitzschlag getötet wurde. Hätte er nicht an seiner Stelle sein können?

Seitdem beschäftigt ihn wohl ein Gedanke, der auch in seinen Romanen immer wieder auftaucht: So viele Lebensmöglichkeiten es gibt, lassen uns oft Zufälle einen bestimmten Weg einschlagen. Bis zu seinem jüngsten Großwerk »4 3 2 1«, wo auf 1259 Seiten das Leben einer Person in vier Varianten beschrieben wird.

Da vermeint man in den kurzen Texten des »roten Notizbuchs« sozusagen eine Wurzel für das Weltgefühl des berühmten US-amerikanischen Schriftstellers zu entdecken, auch einen Grund für seine Popularität. Er macht uns staunen, weil er offenbar mit Wundern lebt. Weil er an glückliche Fügungen glaubt, denn er hat solches immer wieder erlebt, schenkt er uns etwas in heutiger Zeit Seltenes: Gegen verbreitete Furcht setzt er ein unbeirrbares Vertrauen. Das freilich enttäuscht werden kann und wohl bei ihm schon enttäuscht worden ist. Wenn Zufälle regieren, kann es auch schlimm ausgehen. Er aber speichert in seinem Gedächtnis vornehmlich das Rettende, Momente, in denen man sagt: Was für ein Glück!

Paul Auster: Das rote Notizbuch. Wahre Geschichten. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, 106 S., geb., 15 €.

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