Von Magdeburg nach Kassel und zurück

Der Band »documenta persönlich« erinnert auch an die erste Beteiligung von DDR-Künstlern an der Weltkunstschau

  • Till Sailer
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Kasseler Kunsthistoriker Harald Kimpel hat ein Buch über die documenta herausgegeben, das, so der Untertitel, »Weitere Erinnerungen an die Weltkunstausstellungen« zusammenfasst und angeblich »Alternative Fakten« enthält. Die Publikation »documenta persönlich« schließt an seinen 2012 veröffentlichten Band »documenta emotional« an und vereint »verstreute Reminiszenzen« von meist weniger bekannten Zeitzeugen, seien es Künstler, Besucher oder Organisatoren. Dabei ging es ausdrücklich um Vielfalt. Prominente Ausnahme ist der Künstler Günther Uecker.

Die Beiträge beziehen sich auf die documenta-Jahrgänge 1 (1955) bis 9 (1992). Sie sind vom Herausgeber mit teilweise umfangreichen Kommentaren versehen und durch dokumentarische Fotos ergänzt. Mit elf Texten am stärksten vertreten ist die documenta 6 (1977). Es war der Jahrgang mit der ersten Beteiligung von DDR-Künstlern.

Die damalige Ausstellung wurde von dem Ostberliner Kunsthistoriker Lothar Lang (1928 - 2013) betreut, von dem zwei Beiträge abgedruckt sind. Der eine, nach einem Interview mit Sebastian Preuss 2002 in der »Berliner Zeitung« erschienen, trägt die launige Überschrift »Zum Erstaunen von Beuys kannte Tübke die aktuellste Hutmode«. Der andere, »Die Geschichte ist über diese Rankünen hinweggegangen«, entstammt Langs Erinnerungsbuch »Ein Leben für die Kunst« (2009). Darin schilderte der Autor, wie es zu dem Auftrag kam, welche Brisanz die DDR-Beteiligung mit sich brachte und wie unterschiedlich die Künstler von den Kollegen im Westen angenommen wurden. Dabei konnte er rufschädigende Angaben von Hannelore Offner in dem Buch »Eingegrenzt - Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961 - 1989« aus dem Jahr 2000 schlüssig widerlegen.

Die Kunsthistoriker Wolfgang Hütt und Peter Michel wiederum berichten in ihren Beiträgen unabhängig voneinander, wie 1977 die Busreisen von Mitgliedern des Verbands bildender Künstler vonstatten gingen, die an zwei Tagen jeweils vom Interhotel Magdeburg nach Kassel und zurück führten. Zu lesen sind weiterhin erhellende Ausführungen von Jürgen Schweinebraden, der zur DDR-Zeit in Berlin-Prenzlauer Berg mit etwa 70 Ausstellungen eine illegale Galerie betrieben hatte und nach seiner Ausbürgerung enger Mitarbeiter von documenta-Chef Manfred Schneckenburger wurde. Sein Text »Interesse und Engagement als Grundlage, auf der Stress keine Chance hatte« beschäftigt sich unter anderem mit dem Problem der Meinungsmanipulation durch die Medien und des »Konsumismus im Kapitalismus«.

Bei vielen Beiträgen, so der Herausgeber, handele es sich um Momentaufnahmen und Gedächtnisfragmente »aus dem Geist der Anekdotik«. Es sei den Autoren bei dem zeitlichen Abstand vor allem um Atmosphärisches gegangen. Erahnen lässt sich das aus Überschriften wie »Er hasst die Uniformen des üblichen Aufsichtspersonals« von Hartmut Böhm, »Ich habe Walter De Maria das Biertrinken beigebracht« von Hans-Jürgen Pickel oder Michael Preidels »Ich habe danach nie wieder eine Staeck-Postkarte angerührt«.

Dass »alternative Fakten«, also Erlebnisse aus subjektiver Sicht, nicht nur Hintergründiges und bislang Unbeachtetes zutage fördern, sondern auch Zufälliges und Ungesichertes, begründet Harald Kimpel mit der Ungenauigkeit des Gedächtnisses. Aber der Herausgeber ist davon überzeugt, dass manche empfundene Wahrheit mehr Wahres enthalten kann als manche wissenschaftliche Darstellung. Die Beiträge, schreibt er, »rütteln an den Toren, hinter denen die vergangenen Ereignisse konserviert werden«.

Harald Kimpel (Hrsg.): documenta persönlich. Weitere Erinnerungen an die Weltkunstausstellungen. Jonas Verlag, 144 S., br., 20 €.

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