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Strandcocktails und doppelte Biografiebrüche

Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt begeht das 125-jährige Bestehen des Industriestandortes unter anderem mit einer aktuellen Ausstellung

  • Lesedauer: 4 Min.

Bitterfeld-Wolfen. Fröhlich baden Familien bei blauem Himmel im Wasser des Goitzschesees, Strandschönheiten rekeln sich im Sand. Segelboote ziehen über das »Bitterfelder Meer«, wie der künstlich entstandene See im Volksmund genannt wird. »Wie Urlaub hier«, hört man. Und: »Das hätte ich nicht gedacht, dass sich das mal so entwickelt, ausgerechnet hier« oder »Weißt Du noch, als hier die Kohlebagger waren, der Dreck und Krach und die stinkenden Chemiebuden?« So erinnern sich Gäste in einem Restaurant mit Bar, während sie in Liegestühlen am Ufer Cocktails trinken. Nebenan wird eine Hochzeit gefeiert, eine restaurierte Villa ist ein Hotel.

Gefeiert wird in der Region Bitterfeld-Wolfen aber nicht nur in der Freizeit. Unter dem Motto »Wir leben Chemie« wird in diesem Jahr an das 125-jährige Bestehen des Industriestandorts erinnert - mit Ausstellungen, Festwoche und Messen. Unter dem Titel »Wir hier. Leben und Arbeiten in der Chemieregion Bitterfeld-Wolfen« zeigt eine Ausstellung ab 7. Juni anhand von Porträts die Geschichte der Region und »was die Menschen bewegt, wie sie am Standort leben und arbeiten«, erzählt Uwe Holz, Leiter des Industrie- und Filmmuseums Wolfen. Bilder von Menschen - ob Arbeiter, IT-Spezialist, Feuerwehrmann oder Künstler - sollen die Region zeigen.

Einer der Zeitzeugen ist der Schweißer Günter Piechatzek (76) aus Bobbau bei Wolfen. »Die Zeiten sind zwar anders, aber ein bisschen wiederholen sie sich. Wenn wir heute von lebenslangem Lernen sprechen, dann ist das ein alter Hut«, sagt der Facharbeiter. Gutes Personal sei zu jeder Zeit unabdingbar. Denn die Sorgen um qualifiziertes Personal drücken angesichts des demografischen Wandels derzeit auch Firmen am Standort, der trotz Strukturwandels zudem mit seinem alten Ruf zu kämpfen habe, wie Michael Polk, einer der Geschäftsführer der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen GmbH, sagt.

Ein für das Jubiläum in Auftrag gegebener Dokumentarfilm soll nun auch anhand von Lebensgeschichten sowie Landschaftsaufnahmen ein bisher nicht gekanntes Bild des Standorts zeigen, sagt Patrice Heine. Wie Polk ist er Geschäftsführer der Chemieparkgesellschaft. Nach fast 30 Jahren des Wandels klebe an dem Landstrich überregional immer noch ein Negativ-Image, beklagen die beiden Manager. Nach dem Mauerfall war in Studien von Umweltexperten nachgewiesen worden, dass Bitterfeld-Wolfen die dreckigste Region Europas war.

Heruntergewirtschaftete Betriebe wie das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), riesige Tagebaue und Rauchschwaden auch über Wohngebieten kennzeichneten die Lage vor Ort. Heute prägen moderne Betriebe, eine sich erholende Umwelt, sanierte Wohnungen und Seen das Bild von Bitterfeld-Wolfen, einem der größten Industriestandorte im Osten Deutschlands.

Vor 125 Jahren machte die Firma AEG den Anfang. Die Geschichte von Bitterfeld-Wolfen ist wechselhaft. Dazu gehören die Nazi-Zeit und Zwangsarbeit, die ökologische Katastrophe, Erfindergeist, der sozialistische Start und Niedergang und der Neuanfang Anfang der 1990er Jahre. Dokumente und Exponate im Industrie- und Filmmuseum zeigen auch, dass Zehntausende Arbeitsplätze mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft verloren gingen.

Später ging auch die Produktion der Solarindustrie in der Region infolge der Billigkonkurrenz aus Asien unter. Damit erlebten Tausende Beschäftigte zum zweiten Mal in kurzer Zeit nach 1990 gravierende Brüche in ihren Biografien. Davon hat sich die Region trotz zwischenzeitlich gesunkener Arbeitslosenquote - sie lag Mai 2018 im Landkreis Anhalt-Bitterfeld bei 7,7 Prozent - nicht vollständig erholt. Leerstand in Kommunen, Langzeitarbeitslosigkeit, Abwanderung und Wahlerfolge der AfD - Unmut über die Politik gibt es auch heute vielerorts im Landkreis Anhalt Bitterfeld.

Am Goitzschesee wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Wahlkampf 2017 von aufgebrachten Menschen ausgepfiffen. Sie erntete bei ihrem Auftritt aber auch Beifall für ihre Argumente. Seit 1990 wurden laut Polk mit Hilfe des Bundes, des Landes und der EU rund 4,5 Milliarden Euro im Chemiepark investiert. Etwa 12 000 Menschen sind in Firmen der Region beschäftigt, darunter Betriebe von international agierenden Unternehmen, Mittelständler und Dienstleister. Die Entwicklung könne sich sehen lassen, sagt Polk. Zeitzeuge Piechatzek nickt ihm zu und blickt dabei auf seinen Schweißerpass von 1957 - das Qualitätssiegel des Berufs. »Bis heute«, sagt er. dpa/nd

Die Ausstellung »Wir hier. Leben und Arbeiten in der Chemieregion Bitterfeld-Wolfen« ist vom 7. Juni bis 31. Oktober 2018 im Industrie- und Filmmuseum Wolfen zu sehen, Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, Areal A, Bunsenstrasse 4, Dienstag bis Sonntag 10 bis 16 Uhr.

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