Die Todeszone wächst

Armin Petras inszeniert Orwells »1984« am Düsseldorfer Schauspielhaus

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Wann spürt man, dass man in einem falschen Leben feststeckt? Meist, wenn es zu spät ist, es kein Entkommen mehr gibt. So wie Winston und Julia, die beide Teil des Überwachungsapparats von Ozeanien sind. Robert Kuchenbuch und Lea Ruckpaul spielen die Selbstbefreiung zweier Menschen, die etwas Unerklärliches zueinandertreibt: eine im System von Strafe und Belohnung nicht vorgesehene Sehnsucht. Welch archaischer Liebestanz inmitten einer synthetischen Welt. Kraftvoll, anrührend und erschreckend in seiner blinden Liebeswut.

Ozeanien das ist hier ein Symbol für totalitäre Herrschaft schlechthin. Ein mittels Bildschirmen omnipräsenter Big Brother beherrscht die Szenerie dieses sektenartigen Gemeinwesens, in dem man sich - widerspruchslos, weil ohnmächtig angesichts vermuteter Allmacht - als Krone von Freiheit und Fortschritt feiert. Leider habe man so viele Feinde und müsse darum wachsam sein - unter Mithilfe aller. Das erinnert an François Truffauts hellsichtigen Film von 1966, »Fahrenheit 451«. Dort ist die Feuerwehr nur dazu da, die letzten Bücher in verborgenen Bibliotheken zu verbrennen. Nichts soll von der Vergangenheit bleiben - erst recht keine Erinnerung.

Der »neue Mensch« ist in »1984« ein Resultat massiver Manipulation, er wird mittels Gehirnwäsche »umgeschöpft« - und wenn das nicht hilft, in einem Massenspektakel hingerichtet. Wahrlich eine schöne neue Welt, in der die Angst dem Menschen ein gefrorenes Lächeln ins Gesicht zaubert. In diesem Klima blühen nur noch Eisblumen.

Der Zugriff von Armin Petras (der eine eigene Spielfassung schrieb) und Bühnenbildner Olaf Altmann auf »1984« ist von furioser Wucht - hat etwas von barocker Endzeiterwartung unter futuristischem Aspekt. Ein großer Scheinwerfer, Zentralgestirn auf schwarzer leerer Bühne, wirft, wie ein landendes UFO, einen Lichtkegel hinab. Schließlich verschluckt er die darunter Stehenden. Am vorderen Bühnenrand schiebt sich zudem immer wieder etwas zwischen Bühne und Zuschauer, das wie eine Betonmauer wirkt, der jedoch einige Segmente fehlen - oder auch ein nächtlicher Wald sein könnte, durch dessen dicht stehende Stämme man nur einen Teil dessen erahnt, was sich tief in ihm abspielt.

Da ist vor allem Big Brother selbst, mit totenweiß geschminktem Gesicht, in dem das Licht gleichsam explodiert. Ein Dämon, der zum omnipräsenten Motor des unheiligen Geschehens, von Erpressung und Nötigung, von Folter und falschen Versprechen wird. Christian Friedel ist Ozeaniens geisterhafter Herrscher Charrington, der große böse Bruder, der alles zu sehen und zu hören vorgibt - aber am Ende doch bloß eine Chimäre der Macht ist, die in den Augen derer entsteht, die ihn fürchten.

Christian Friedel sorgte vor einigen Jahren am Staatsschauspiel Dresden in Roger Vontobels Hamlet-Inszenierung für Furore, als er mit seiner Band Woods of Birnam den gesamten ersten Teil zu einem Hamlet-Rockkonzert umfunktionierte. Inzwischen ging dieser »Hamlet« in Dresden über hundert Mal über die Bühne und wird nun vom vormaligen Dresdner und jetzigen Düsseldorfer Intendanten Wilfried Schulz an den Rhein geholt - mit Erfolgsgarantie.

Das weckt Begehrlichkeiten, aber die Unschuld der Anfänge ist im Wiederholungskalkül bereits aufgehoben: Auch Armin Petras übergibt für »1984« nun Christian Friedel und Woods of Birnam die Musik. Damit ist der ekstatische Ton vorgegeben. Friedels an Freddie Mercury erinnernde stimmliche Himmelsstürmerei in teuflischer Mission geht jedoch nicht zulasten des gesprochenen Worts, sondern bleibt organischer Teil der Inszenierung, die somit zwar extreme Fallhöhen in sich birgt, aber diese dann wieder - mittels Kraftakt von Regie und Darstellern - in einen durchgehenden Rhythmus bringt.

So entsteht eine immense innere Spannung des Spiels, das die etwas unübersichtliche Handlung des Romans in ein Tableau unserer digitalen Gegenwart überführt. Wer ist dieser Big Brother? Ein Einzelner, ein Diktator mit absoluter Macht, oder sind es anonyme Strukturen, die unter der Vorspiegelung von Freiheit selbst Freiheitsräume eliminieren? Für Petras ist Orwells Apokalypse-Vision der totalen Herrschaft nicht von gestern, sondern eine Drohung von morgen. Heute wird über sie ein Entscheidungskampf geführt. Wenn moralische Bewertung Rechtsformen ersetzt, wenn Verdächtigungen ausreichen, jemanden sozial zu vernichten, wie das derzeit durch Internet-Kampagnen bereits möglich ist, was wird dann aus dem Einzelnen, in was für einer Gesellschaft leben wir dann - und wer besitzt darin die Macht? Gibt die Digitalisierung dunklen Mächten alle Freiheiten zur Herrschaft, in der die Polizei sich - mittels Zugang zu Algorithmen - zur »Gedankenpolizei« hochrüstet, etwas, das schon Orwell fürchtete? Das ist die Kernfrage dieser kraftvoll-klugen Inszenierung.

Im Programmheft zu »1984« ist ein Beitrag des China-Korrespondenten Kai Strittmatter zu lesen, der wahrhaft endzeitlich klingt. Was anfangs wie eine Erziehungsdiktatur klingt, bekommt schnell die Dynamik eines Hightech-Gulags. Denn gerade wird eine neue App erprobt, die »Ehrliches Shanghai« heißt. Dazu werden Gesichter gescannt, und an die hundert Ämter liefern ständig persönliche Daten. Das »System für soziale Vertrauenswürdigkeit« vergibt nun Punkte, die der Einzelne auf sein Profil angerechnet bekommt.

Für Nachbarschaftshilfe und korrektes Verhalten in der Öffentlichkeit vergibt »Big Data« Extra-Punkte, für Säumigkeiten oder Fehlverhalten aller Art gibt es Abzüge. Wohlverhalten wird dann mit Prämien belohnt, negatives Verhalten bestraft - bis hin zum Verbot, das Internet, Züge oder Flugzeuge zu benutzen, bis zu Passentzug und Arbeitsplatzverlust.

All das besorgen ganz allein die Algorithmen, die jene Daten berechnen, die wir ihnen liefern. Was für die einen der Himmel des Konformismus, ist für die anderen die Hölle der Ausgrenzung. Der kritische Bürger ist dann ein Teil jenes analogen Zeitalters von gestern, das die Digitalisierung auf den Müll zu werfen gedenkt - wie alles, was sich dem schlichten 1-0-Code der Computerwelt versperrt. Widersprüche kennt diese Welt nicht mehr, Rationalität ist nur dazu da, Abläufe zu optimieren. Eine Tragödie jenseits allen tragischen Bewusstseins, wo man mit gutem Gewissen all jene eliminiert, die sich den Regeln der schönen neuen Welt nicht unterwerfen wollen.

Petras’ Inszenierung ist voller Motive, die totalitäre Tendenzen umspielen. »Neusprech« ist hier allgegenwärtig. Erst stirbt die Sprache, dann die Fähigkeit zu fühlen und mitzuleiden. Die Herrschaft der Abstrakta, der Informationskürzel, der wie Bomben in Wörtern (auch gut gemeint) eingestreuten Sternchen: Dazu sollte man Victor Klemperers »LTI« lesen, über die tote »Sprache des Dritten Reichs« als Sprache der Unmenschen, die in technischen Systemen überwintert und immer wieder nach Herrschaft über das Lebendige strebt.

Da ist auch die Ersatzwelt der Imitate und Kunststoffe, fern aller Natur - auch der eigenen. Sie verstärken die Tendenz zur abgeleiteten Existenz. Anrührend, wie Winston und Julia der Kontrolle der allgegenwärtigen Bildschirme zu entkommen versuchen - sich in die letzten Reste von Wildwuchs flüchten, wo sie dann vom falschen Verbündeten O’Brien (Wolfgang Michalek) aufgestört werden - der ein kalt-funktionaler Sadist ist, der nach Maßgabe der Vernunft, so wie er sie eben versteht, foltert.

Da kommt dann auch Andrej Tarkowskis Thema vom Aussterben des Menschen ins Spiel; zwischen »Stalker« und »Solaris« liegen lauter »verbotene Zonen«, in denen der antiquierte Mensch verloren geht. Bomben explodieren auch in »1984«, angeblich hat sie der »Feind« gezündet. Warum liebt Julia überhaupt Winston? »Du bist dagegen«, sagt sie, das verbindet sie. Und so lässt Armin Petras in seiner von Unbedingheit getragenen Inszenierung dann eine bei Orwell so nicht vorgesehene Inkonsequenz zu, die wie ein Utopie-Funken aufscheint: Der Einzelne kann sich immer noch anders entscheiden, gegen das, was ihm eine falsche Vernunft wider sein Gefühl suggeriert.

Nächste Vorstellungen: 10. und 11. Juli

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