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Ein langer Pass in den Traum

Albert Ostermaier über die Fußball-WM, den verkappten Dadaisten Söder und die Wahrheit, die auf dem Platz liegt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 8 Min.

Albert Ostermaier, Sie sind Torwart der deutschen Autoren-Nationalmannschaft: Gehen Sie noch immer gern dorthin, »wo es wehtut«? Und lernt in diesem Punkt die Dichtung vom Fußball?

Ich arbeite an meinem Comeback. Eigentlich dürfte ich nie wieder im Tor spielen, ich bräuchte längst einen Käfig in meinem Halswirbel. Aber ich habe gelernt, dass man dem Offensichtlichen nicht glauben darf, wenn es gar zu offensichtlich ist, und: dass es immer eine zweite Wahrheit gibt.

Albert Ostermaier

Der 1967 geborene Albert Ostermaier gehört zu den prägenden Lyrikern, Dramatikern und Prosa-Autoren in Deutschland. Er war »writer in residence« in New York sowie Hausautor am Nationaltheater Mannheim, am Bayerischen Staatsschauspiel, am Wiener Burgtheater. Vor allem aber ist er Mitglied 40 838 des FC Bayern München und Torwart der deutschen Autoren-Nationalmannschaft. Mit ihm sprach Hans-Dieter Schütt. Foto: dpa/Uwe Anspach

Das heißt?

Ja, ich gehe immer noch dorthin, wo es wehtut, im Text und zwischen den Pfosten. Aber während beim Schreiben der Schmerz ein Doppelpunkt ist: nach vorn hin offen, ist er zwischen den Pfosten eine Torlinie, über die der Ball nicht mit einer vollen Umdrehung rollen darf.

Bitter, wenn ein Ball besagte Torlinie überschreitet und der Torwart ihm nachsieht und also Orpheus sein muss: vom Menschen zur Salzsäule.

Deshalb will mein Halswirbel nicht zurückblicken, das Netz ist für den Torwart die Hölle.

Sie sind Torwart im Dichter und Dichter im Torwart: Angesichts von Loris Karius vom FC Liverpool - darf denn der Fußballgott so gnadenlos sein wie beim Spiel gegen Real Madrid?

Ramos hat sich genau die beiden Sollbruchstellen Liverpools vorgenommen und sie im bösen Sinn des Wortes - gebrochen, Karius und Salah. Allerdings: Karius trägt seine Ängste auf die Haut tätowiert, er hat Angst, statt nach dem Kahn’schen Diktum Angst zu machen.

Zitat Albert Ostermaier: »Der Torwart ist von einer kafkaesken Schuld besessen, die er abbüßen muss, ohne zu wissen, was er sich hat zuschulden kommen lassen.«

Ja, wenn er die Schuld an einem spielentscheidenden Gegentreffer trägt, dann bleibt sie eingebrannt. Das ist, wenn man es mit dem permanenten Versagen der Stürmer vergleicht, ein schreiendes Unrecht. Nur der Torwart hat für seine Fehler ein eigenes Wort, das ihn stigmatisiert: Torwartfehler.

Aber der Torwart ist und bleibt auch der wahre Held.

Torwarte sind Seher. Ihre Sprunggelenke haben unsichtbare Pupillen und können in die Zukunft blicken: Denn wenn sie gut sind, antizipieren sie die Bälle und stehen schon richtig, wenn die Stürmer noch gar nicht wissen, dass sie dorthin schießen werden

Was denken Sie, wenn nun mehrere WM-Wochen lang wieder die »deutschen Tugenden« beschworen werden?

Ich denke an Schiller: Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt. Seit die deutsche Mannschaft wirklich spielen kann, braucht sie keine Tugend mehr, die deutsch ist, denn ihre Tugend ist - hoffentlich - die Schönheit. Der Rest ist Selbstmystifizierung durch Plattitüden - gegen die Gefahr der Niederlage.

Ist den Deutschen schon deshalb der Sieg zu gönnen, um der lustigen Sekte von »vaterlandslosen Gesellen« eins auszuwischen?

Die deutsche Mannschaft zu hassen, das ist nicht links, wie manche meinen, sondern eine verschärfte, weil verkappte Form des Fundamentalismus und Chauvinismus. Der deutsche Fußball öffnet durch seinen selbstverständlichen Migrationshintergrund längst Räume, die dem statischen ideologischen Denken verschlossen bleiben. Lasst diese mürrischen Leute Fahnen knicken und beinhart sein im Kopf - alle Mauern sind überwindbar, und zwar mit dem richtigen Effet des Balles. Fußballerisch und geistig: Wer das Dribbling liebt, hasst die Blutgrätsche.

Beim Blick auf die deutsche Mannschaft: Fehlen nicht doch auch Charaktere, fehlt also das Charisma für Tragödien? Und für Lust-Spiele?

Nichts fehlt. Der Fußball sucht sich seine Helden und lässt manchen in Sekundenbruchteilen ganze Leben durcheilen. Es geht um Grasnarben und innere Verletzungen, darum, dass eben auch der, der schon alles gewonnen hat, im nächsten Moment alles verlieren kann. Wir Deutschen haben durchaus einige, die das Potential haben, der Mannschaft genau jenen Geist einzuhauchen, den sie im Turnier haben soll und haben muss. Auch wenn es keinen Schweinsteiger gibt, es gibt einen Boateng und einen Neuer. Und wenn Özil einmal aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst würde und seine Gehirnerschütterung des falschen Staatspräsidenten überwunden hat, wäre er ein schöner unerwarteter Protagonist.

Sind Sie beim Fußball lieber ein Deutscher als bei anderen Gelegenheiten?

Ich bin ja mehr Bayer als Deut᠆scher ... Aber ja, ich bin beim Fußball lieber Deutscher, denn diese Mannschaft ist so polyphon und polyperspektivisch, wie ich mir auch ein Deutschland wünsche, in dem ich gerne Deutscher bin. Deutschland ist aber längst anders, als es die Blut-und-Boden-Beschränkten glauben und behaupten. Es ist nicht das Gebilde, von dem man im Pegida-Dresden so stupide träumt.

Sie betonen Ihre bayerische DNA. Nun hängt das Kreuz in den Amtsstuben.

In Bayern ist es immer ein Kreuz mit dem Kreuz, aber das Kreuz wird am Ende alle aufs Kreuz legen, die ich so eifernd darauf berufen. Ich bin absolut für die Trennung von Kirche und Staat, aber ich gehe auch nicht vor einem Kreuz in die Knie. Und wenn Söder noch so laut sein Markus-Evangelium verkündet!

Vielleicht macht dieser Ministerpräsident mit seinem schamlosen Kreuz-Zug Bayern zu einer Dependance der »documenta«. Mit anderen Worten: Wie viel Humor erfordert die besagte Kreuz-Anordnung?

Wir haben unser Kreuz mit Söder, und da er überall präsent ist, bräuchten wir im Land gar keine Kreuze mehr aufzuhängen. Aber Schlingensief hätte seine Freude an ihm, denn vielleicht ist er tatsächlich ein verkappter Dadaist. Wenn Söder auf seine Amtsstuben-Art unbedingt zu Kreuze kriechen will, soll er es tun - wir haben schon ganz andere heimgelacht.

In einem Gedicht haben Sie geschrieben: »ich/ fühle eine gewalt in mir/ ohne die ich das wort/ heimat nicht träumen kann«. Was heißt das in Zeiten eines Heimatministeriums? Dem zudem ein Bayer vorsteht?

Das ist eine Behördenbeheimatung und hat mit Heimat nichts zu tun. Man muss das Wort vor Seehofer schützen und es gegen ihn benützen.

Beschreiben Sie bitte den Abstand, den Sie brauchen, um Deutschland zu mögen?

Ja, Deutschland ist für mich Abstand. Eine Abstraktion. Ich bin als Europäer groß geworden. Ich liebe Menschen, Orte, Wolken in Deutschland. Ich bin Deutscher in der Literatur, beim Lesen, in dieser so unvorstellbar schönen und tiefgründigen Sprache und in der Welt, die sie erzeugt. Zum Deutschen macht mich der Blick der anderen und, in den jetzigen Wochen, die deutsche Nationalmannschaft.

Tut dieser Abstand, so sehr er hilft, auch weh? Man ist doch auch gern Deutscher.

Abstand tut weh, aber der Schmerz lässt schärfer sehen und erkennen, wie er überwindbar ist. Deutschland ist nicht mehr ohne den Holocaust denkbar, und das Leben hier wird um so lebbarer, je lebhafter wir es schaffen, dieses Bewusstsein lebendig zu halten: damit das Schlimme nie wieder passieren kann. Wir sind kein geteiltes Land mehr; aber es kommt darauf an, unser Leben mit dem Deutschland zu teilen, das wir geerbt haben. Dann wird es ein Land, das den Abstand zu sich selbst verliert.

Noch mal zum Fußball: »von den deutschen die schweinsteiger/ von den bastians die übersteiger«, haben Sie in einer »Wunschliste« gedichtet, frei nach Brecht. Das war vor über zehn Jahren. Aktualisieren Sie diese Liste bitte.

Da gibt es noch nichts zu aktualisieren. Bastian bleibt mein Held, basta. Sané wäre auch auf meiner Wunschliste gewesen, aber der wurde mir ja durchgestrichen. Und in Neuers Fuß ist nun so eine Platte hineinoperiert - von der wünsche ich mir, das sie so hält wie er. Und dass der Müller endlich wieder müllert, und zwar nicht nur mit Worten.

Drei Münchner Fußball-Namen, drei Anmerkungen bitte: Sandro Wagner?

Kann nicht verlieren, hat deshalb in einem Team nichts verloren.

Niko Kovač?

Ist leider nicht Tuchel.

Manuel Neuer?

Der weltbeste Torwart - dem hoffentlich nicht Ramos auf den Fuß steigt. Aber ich denke bei der WM auch an ter Stegen, der dem Manuel in fast nichts nachsteht und den man nicht vergessen darf.

Was hat Deutschland verloren, wenn es Weltmeister werden würde?

Nichts, sonst würde es ja nicht Weltmeister.

Was hat Deutschland gewonnen, wenn es nicht Weltmeister würde?

Die Einsicht, dass andere besser sind und man trotzdem mit ihnen feiern kann.

Aber: »Der Bessere soll gewinnen« oder »Ich bin immer für den Schwächeren« - ist denn ein richtiger Fußballfan in der Lage, so langweilig edel zu denken?

Wer solche Sätze im Fan-Block sagt, sollte allerdings lieber zum Synchronschwimmen gehen. Diese Philosophie ist entweder verlogen oder noch schlimmer: leidenschaftslos.

Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Wie aber liegt sie dort? Geschlagen? Schlafend? Tot gar? Oder wie?

Sprungbereit. Die Wahrheit liegt auf dem Platz, und auch sie ist ein Spiegel. Zum Beispiel für das, vor dem wir die Augen verschließen.

Albert Ostermaier, sollten die Dichter dichten oder (wieder) öffentlich politische Stimmung machen?

Dichtung selbst ist politisch, denn sie schärft die Sprache, unsere Wahrnehmung, sie lässt uns in Gegensätzen denken und vor allem: Sie lässt die Widersprüche nebeneinanderstehen. Dichtung ist so politisch wie Fußball - auch wenn das viele nicht glauben können oder wollen. Denn beide können sie Wirklichkeit ins Rollen bringen. Beide sind ein langer Pass in den Traum, dass die Welt veränderbar sei.

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