Wenn die Hölle friert

David Marton gelingt ein atemberaubendes Psychogramm von Mozarts »Don Giovanni«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 4 Min.

Beinahe wäre der rührige Chef der Oper Lyon, Serge Dorny, als Intendant der Semperoper in Dresden gelandet. Doch in Sachsen fand man nicht zusammen. Noch bevor es richtig losgehen konnte, war der Traum vom Ruck nach vorn wieder ausgeträumt. Am Ende gibt es einen vergoldeten Handschlag für den Flamen. In ein paar Jahren wird er nun Chef der Bayerischen Staatsoper in München. Die einen sind selber schuld und die anderen haben Glück. Wenn einer die Balance aus Starglamour und ästhetischer Offenheit wahren und ein Projekt für die Stadt entwickeln kann, dann Dorny.

Wie er das mit seiner Stagione-Oper in Lyon gemacht hat, war jetzt wieder exemplarisch bei David Martons »Don Giovanni« zu erleben, der dort in dieser Spielzeit insgesamt neunmal über die Bühne geht. Dass das Haus nach der Premiere immer noch voll ist, liegt natürlich auch am Stück. Es ist halt »die Oper der Opern«. Dorny hat sie überzeugend besetzt und mit Stefano Montanari einen originellen Dirigenten für sein Orchester engagiert.

In Lyon ist offensichtlich ein Pu᠆blikum gewachsen, das für einen so experimentellen, radikalen Zugriff, wie den von David Marton, offen ist. Dass es nur nach der zweiten großen Donna-Anna-Arie Szenenapplaus gab, lag nicht nur an den Sängern. Die waren stimmlich und darstellerisch durchweg hervorragend. Es lag an der Spannung, die Marton mit seinem Don-Giovanni-Psychogramm von Anfang an erzeugt und durchhält. Ungewöhnliche Wendungen und Unterbrechungen der Musik inklusive. Manchmal hört man in einer Generalpause nur einen eisigen Windhauch durch die metaphorisch sprechende Kühle des abstrakten Betonbaus von Christian Friedländer pfeifen. Dann wieder absolvieren Don Giovanni und Leporello (Kyle Ketelsen) im riesigen Rund der Öffnung ins Nirgendwo fläzend a capella eine Rezitativpassage, und man hört im Hintergrund Autos vorbeizischen. Oder Don Giovanni fügt eine Textpassage nach seiner Kanzone ein, bei der man ahnt, worum es geht: Er hat vorher nämlich nur die graue, nackte Wand angesungen und war (einsamer geht es kaum) erst von einem Lichtkegel und dann von herabfallenden gerafften Gardinen umhüllt. Also für uns völlig unsichtbar. Im Programm wird auf die Genehmigung verwiesen, Passagen aus Thomas Melles um Bipolarität kreisenden Roman »Die Welt im Rücken« zu verwenden.

Wenn danach der als Arzt agierende Masetto zu ihm vordringt, schlägt er ihn zusammen. Was ja bekanntlich auch jeder psychisch intakte Don Giovanni macht, als ihm seine Verfolger auf den Fersen sind und ans Leder wollen. Bei Marton ist Don Giovanni aber nicht mehr intakt - sein Darsteller Philippe Sly ist es in jeder Hinsicht, die von ihm verkörperte Figur in nahezu keiner mehr. Der muss nicht zur Hölle fahren, der lebt in ihr und flieht von dort: endgültig, wenn ihm der junge Mann im Pyjama, der hier anstelle des Komturs auftaucht und immer wieder durch die Szene geistert, das Rasiermesser überreicht, mit dem er sich die Pulsadern aufschneidet. Da braucht es die Szene nach der Höllenfahrt am Ende auch für die anderen nicht. Die haben das alle durch. Für Leporello ist die ganze Geschichte, die es ja auch bleibt, eine Erinnerung, die er imaginiert. Für Don Giovanni sind sein Getriebensein und die Kälte der Einsamkeit jenseits seiner vielen (und auch im doppelten Dutzend aufmarschierenden) Eroberungen bereits die Hölle. Für Donna Anna (Eleonora Buratto) bleibt die Begegnung mit ihm der leuchtende Mittelpunkt ihres Lebens - während ihrer zweiten großen Arie sieht man, wie Don Ottavio (Julien Behr) an ihrer Seite inmitten einer immer größer werdenden Familie altert und sich immer mehr von ihr entfernt, bis sie schließlich flieht. Ottavio wiederum hat (wie viele Männer) ohnehin ein Don-Giovanni-Problem. Erst sieht er sich selbst in dessen Gestalt mit seiner Anna auf und davon gehen, dann versucht er es bei ihr mit dem »Reich mir die Hand mein Leben«-Verführertrick und der großen Show. Hat damit Erfolg (zumindest bei Zerlina) und landet doch nur in seiner Ehehölle. Ein eiskalter, aufregender Don Giovanni, der lange nachwirkt!

Nächste Aufführungen: 7., 9. 11. Juli

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