Gewobener Wind

Joseph Joubert: »Alles muss seinen Himmel haben«, Aphorismen und Notizen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Leben ist Begegnung mit dem Daseinsschmerz, ist Entfernung von der Hoffnungsfülle biografischer Frühzeit - als die Erwartung noch groß, das Fallbewusstsein noch fremd war. Aber je erfahren zu können, wer man wirklich ist? Fehlanzeige. Es gibt dies Zusammenfassbare der eigenen Existenz nicht. Zu keiner Zeit des Daseins. Es ist erschreckend, wie irgendwann jener äußere Anschein, um den man sich beruflich, gesellschaftlich, existenziell so viele Jahre sorgte, arg abgewetzte Stellen hat. Wenn man denn einen ehrlichen Blick auf sich selbst nicht scheut. Ja, abgewetzte Stellen, just dort, wo einst Schönheit, Tatendrang, Willensstärke ihren Präsentierplatz hatten ...

Trotzdem: »Alles muss seinen Himmel haben.« Sagt Joseph Joubert (1754-1824), der Franzose, der sein Leben lang schrieb und schrieb - und doch nie ein Werk vorlegte. Er hinterließ 205 Notizbücher, noch immer ist er ein berühmter Unbekannter. Elias Canetti freilich sang ihm regelmäßig Loblieder: »Er ist der Antike näher als jeder andere Aphoristiker. Ein besonderer Reiz ist sein Mangel an Gewicht. Seine Schwermut belastet seine Sätze nicht.«

Martin Zingg hat eine Joubert-Auswahl vorgelegt: ein Notizen-Buch zwischen Selbstironie, sarkastischer Klarheit und klagender Hingegebenheit. Zeitlose Erkundungen und Zeit-Kritik. Der Aphoristiker als Philosoph des menschlichen Kerns: Ich bin anders, als ich scheine, aber ich scheine so anders, wie ich sein möchte. Scherbenspuren der Existenz, glitzernd, schneidend - und doch hervorgebracht mit liebendem Herzen.

Ein Mensch geht sich kompromisslos unter die wetterunfeste Haut. Der Schriftsteller als tief Verständiger für das Defizit an Gesellschaftsfähigkeit, das ganz natürlich entsteht, wenn wir dem Hauptdruck nicht nachgeben: der Welt fortwährend entsprechen zu sollen. Dies Defizit-Bekenntnis ist der wahre Reichtum: behindert zu bleiben, wo alle zur Bestform auflaufen müssen. Das war offenkundig auch früher schon so. »Schließe die Augen, und du wirst sehen.« Des Franzosen Da-Sein feiert sich im Wissen um den Verfall jener irrtümlichen Hoffnung, wir bestünden vorzugsweise aus zukunftsfähigem Stoff. Nein, bestehen wir nicht! Aber da, wo alles durch die Finger rinnt, da krallt der Eigensinn trotzdem wie ein Anker. Ein Anker, in die Luft geworfen, als sei dies ein fester Grund. Leben: »Platz schaffen, um seine Flügel zu öffnen.«

Jede Sentenz dieses Büchleins hat auf ihre Weise geradezu schamlos recht. Spiel und Gegenspiel. Des Franzosen besondere Kunst kommt in der Musikalität zum Ausdruck, mit der er das Disparate der menschlichen Seele, das Mehrdeutige aller Lebenselemente letztlich doch in einer loyalen Grundbejahung bindet. Er entdeckt noch in bösesten Alltagswahrnehmungen jenen untilgbaren Rest an schönem Unverhofften. Er mag an der kleinen Ordnung den Traum, den nur die kleine, enge Ordnung zu nähren weiß: den Traum von Wildnis und Weite. So blitzt just im Dunklen die Erkenntnis Nietzsches auf: dass das »Dasein ästhetisch gerechtfertigt« ist. Gegen den Zwang, unserem Leben mehr Schlüssigkeit, mehr Vernunft, mehr Kontinuität aufzupacken, als uns guttut.

Jouberts Sätze-Sammlung: das Kleinod einer so gütigen wie kühlen Selbstbeobachtung. Es erzählt vom wahren Lauf der Welt: Jeder Mensch erlebt immer gleich viel - ob sein Tun und Lassen nun glücklich oder unglücklich, schön oder hässlich, erfüllt oder verzweiflungsvoll ist. Die meisten Unterschiede, die herrschaftlich aufgemacht werden, sind gelogen. Also: Nimm das Leben, wie es ist; ganz schön wird’s nie. Staune, bis all jene Waffen des Zynismus und des Heils, die sich dir als Lebenshilfe anbieten, stumpf kapitulieren. Folge keinem Vorreiter, keinem Vordenker, keiner Vorhut. »Die Schwäche, die bewahrt, ist besser als die Stärke, die zerstört.«

Der Rechtsphilosoph Joubert - Paul Auster nennt ihn im Nachwort einen »geheimen Schatz«, dessen »umstandslose Brillanz« fasziniert. Dieses Nachwort ist ein bestechender Essay über den Ruhm des Unbekannten, die Flüchtigkeit des Nachruhms und die harte Hand des Vergessens, die uns die unerbittlichsten aller Lebenswege weist. Ja, in ein bisschen Einklang mit sich selber kommt nur, wer sein Geringes und seine Würde, seine Rechtfertigungsnot und seine Souveränität immer zusammendenkt. Erstes Gebot auch der Kunst: »Das Entscheidende ist nicht, dass es in einem Werk viele Wahrheiten gibt, sondern dass darin keine einzige Wahrheit verletzt wird.«

Man betrachte unter diesem Aspekt das moderne Gesinnungstoben, die politische Konsensgier wie den ideologischen Abgrenzungseifer. Man betrachte - und wende sich ab. Vom Parteienstreit, vom Diskursgeschwätz: »Wenn das letzte Wort immer das ist, das sich als erstes anbietet, wird die Arbeit schwierig.« Alles gibt sich im Leben, aber das Leben gibt sich uns doch auch immer wieder hin. Sich im Verlorensein aufgehoben fühlen - das ist der aufrichtende Merksatz für jede Tages- und Existenzreise. »Unser Leben ist gewobener Wind.«

Joseph Joubert: Alles muss seinen Himmel haben. Aus den Notizen. Auswahl, Übersetzung, Vorwort von Martin Zingg, Nachwort von Paul Auster. Verlag Jung und Jung, 176 S., geb., 20 €.

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