Frech, chaotisch, aber mit Tiefgang

Wu Caifang und Rudolf Reinders wollen mit dem neuesten chinesischen Spielehit in Europa landen. Von René Gralla

  • René Gralla
  • Lesedauer: 4 Min.

Hell oder matt dunkel schimmern die kleinen Scheiben, die akkurat auf den Schnittpunkten eines Liniennetzes platziert worden sind. Mit einigen Lücken, aber auch diese folgen offenbar einem bestimmten Ordnungsprinzip. Dazu zwei Steine, die sich vom unifarbenen Rest abheben, dank rätselhafter Markierungen auf der Oberfläche.

Die Frau und der Mann, die sich heute in einem Haus in Berlin-Lichtenberg gegenübersitzen, beginnen abwechselnd, die Plättchen zu bewegen und umzudrehen. Auf manchen treten neue fremdartige Zeichen zutage, andere werden sofort aus dem Arrangement entfernt.

Spielstart unter Tarnkappen

Steine, Regeln und Spielziel vom neu-chinesischen JieQi sind etwa die des traditionellen Xiangqi. Zwei Armeen versuchen, mit Figuren unterschiedlicher Stärke den gegnerischen General »matt« zu setzen. Als Spielfiguren dienen Scheiben, auf deren einen Seite der Kampfwert (Soldat, Wagen, Elefant, Kanone usw.) verzeichnet und deren andere Seite leer ist.

Der Knaller bei »JieQi« ist der Start: Nur die beiden Generäle werden »richtig herum« dort platziert, wo sie hingehören. Die anderen Scheiben werden »falsch herum« gedreht, gut »durchmischt« und dann beliebig auf die übrigen Startpunkte verteilt. Es stehen sich so zwei Armeen unter Tarnkappen gegenüber - und keine Seite weiß, was wo darunter ist (Spielstartplan siehe Foto unten).

Ihren ersten Zug macht jede »falsche« Scheibe gemäß des Kampfwertes der sonst auf diesem Startpunkt stehenden »richtigen«. Nach ihrem ersten Zug wird sie »richtig herum« gedreht. Dabei kann sich ein Quasi-Soldat als echte Kanone, ein Quasi-Wagen als echter Elefant entpuppen. Sind alle Scheiben umgedreht, ist das Eröffnungspoker zu Ende: Zufall vorbei, Genie voran! gra

Eine ebenso rasante wie für den Laien geheimnisvolle Angelegenheit. Die Profis um die beiden Spieler bleiben cool, aber Wangen röten sich, und auch Emotionen brechen sich Bahn. Denn es geht, wie wir bald erfahren, um ein mentales Duell der beiden am Brett. Als Clou sind dafür in den Spielverlauf ständig »Überraschungseier« eingebaut. Nur schrittweise, nämlich durchs Step-by-step-Aufdecken, bekommen die Akteure mit, mit welchen zuvor versteckten Spieleinheiten sie es während einer Partie zu tun haben.

»Das ist JieQi«, sagt Wu Caifang. Das chinesische »Qi« bedeutet, dass es sich dabei um ein Brettspiel handelt, und die Vorsilbe »Jie« meint »enthüllen« bzw. »bloßstellen«. Kein Wunder, dass die Sache bei so einem Potenzial das Zeug hatte, zu einem Straßenfeger in der chinesischen Brettspielszene zu werden.

Entwickelt wurde JieQi aus einem Denksport, der zwischen Peking, Schanghai und Hongkong bereits seit Generationen äußerst populär ist: Xiangqi, im Deutschen so viel wie »Elefantenspiel«. Xiangqi widerspiegelt im Minimaßstab einen Wendepunkt der chinesischen Geschichte. Gemeint ist die Schlacht Gaixia (202 v.u.Z.), mit der der Aufstieg der Handynastie zum dominierenden Faktor im Reich der Mitte begann. Strategisches Ziel dieses Spiels ist - durchaus vergleichbar mit Schach -, den gegnerischen Oberbefehlshaber zu isolieren, zur Aufgabe zu zwingen oder direkt auszuschalten.

Für den Spielablauf selbst greift aber eine Analogie von Xiangqi und Schach zu kurz. Vor allem, weil sich die trickreiche Elefantenshow en miniature mit Steinen, deren chinesische Schriftzeichen die unterschiedlichen Truppenteile einer kaiserlichen Armee definieren, auf einer symbolischen Landkarte abspielt. Die verfeindeten Lager werden durch einen Grenzfluss getrennt; dieses Szenario erinnert nun wiederum eher an das moderne E-Game »StarCraft«.

Und wo steht nun vergleichs- bzw. analogieweise dieses neue JieQi, das dem nd-Reporter jüngst an einem strahlenden Sommertag vorgestellt wurde? Es ist frech, chaotisch, aber mit Tiefgang und kommt als jüngste Tochter der Strategiespielfamilie wie eine Pippi Langstrumpf daher. So ein Wildfang ist nämlich auch JieQi. Es will gebändigt sein, lässt sich aber kaum bändigen, ist bei den Spielern stets für einen Befreiungsbrüller oder abgrundtiefen Seufzer gut. Bis vor wenigen Jahren war JieQi »nur« ein Straßen- und Parkspiel. Schnell hat sich in der Volksrepublik aber ein breiter Turnierbetrieb etabliert.

Die studierte Volkswirtin Wu Caifang meint, dass JieQi ob seiner zeitgemäßen Eigenschaften auch eine Bereicherung für die deutsche Brettspielszene werden könnte. Dazu hat sie, kongenial assistiert von Ehepartner Rudolf Reinders, studierter Physiker, inzwischen Rentner, den Deutschen JieQi-Verein gegründet. Der organisiert seit kurzem Spieleabende auch in Berlin. Längst trägt Wu Caifang den Xiangqi-Master-Ehrentitel und hat bereits an acht Weltmeisterschaften teilgenommen.

Verfälscht das Glücksmoment im JieQi nicht die strenge mathematische Schönheit von Xiangqi? »Es ist eine Herausforderung, am Brett rechnen und gleichzeitig pokern zu müssen«, sind sich beide einig. Die zufälligen Startpositionen der Figuren, die anfänglich stark limitierten Informationen über den tatsächlichen Wert verdeckter Steine »sorgen unablässig für Überraschungen, kreieren die brisantesten Stellungen« schwärmen sie.

Rudolf Reinders verweist auf eine zwar formale, aber verblüffende Parallele. Nachdem sich Volleyball erst im Breiten-, dann auch im Spitzensport etabliert hatte, kam irgendwann auch Beachvolleyball auf. »Das vermittelt neben der Wettkampfatmosphäre eben auch einen starken Hauch von Freizeitgefühl und Strandurlaub, auch ein Zufallsprickeln.« Längst aber werden beide Disziplinen las gleichberechtigt wahrgenommen.

Allerdings darf man »den Zufallsfaktor beim Beachvolleyball der asiatischen Strategiekunst nicht überbewerten«, merkt Wu Caifang an. Manchmal mögen auch Anfänger im JieQi punkten, aber auf lange Sicht landeten die spielstärkeren Konkurrenten vorn. Pech könne ein Match zwar mitunter kippen, doch »Hasardeure haben höchst selten Erfolg«.

JieQi ist auch eine spannende Einladung, sich mit chinesischer Geschichte zu beschäftigen, meinen Wu Caifang und Rudolf Reinders. Es schlägt eine Brücke zu den Anfängen fernöstlicher Spielkultur. Nicht nur zu Xiangqi, der Mutter des JieQi, sondern auch zur 3500 Jahre alten Großmutter Liubo. Die hatte übrigens auch schon mehr mit dem Pokern geflirtet als ihre puritanische Tochter. Die zeitgenössische Enkelin JieQi kommt also mehr nach der Oma.

Weitere Infos zum Spiel: www.jieqi.de; Nachfragen und Spieltermine: Rudolf Reinders, E-Mail: Reinders-rudolf@kabelmail.de;

Spielsets für Xiangqi oder Co Tuong, mit denen JieQi gespielt wird, gibt es in Asia-Shops preiswert zu kaufen.

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