Köpper ins Erwachsenwerden

Immer mehr Freibäder müssen schließen. Es wird verkannt, welche soziale Kraft in ihnen steckt. Erste Liebe, erster Kopfsprung, beste Freunde, bester Sommer. Von Ingrid Heinisch

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 5 Min.

Welch Glück, dass es sie noch gibt! Landauf und landab schließen Freibäder, aber eines hat alle Anfeindungen überstanden: die Waschmühle in Kaiserslautern in Rheinland-Pfalz. Sie verkörpert sozusagen den Dinosaurier unter den Freibädern Europas: ein Freibad im klassischen Sinn. Mehr als zwei Rutschen ins Kinderbecken und in den etwas tieferen Nichtschwinmerbereich hat sie nicht zu bieten, dafür aber einen Zehnmetersprungturm.

Was sie so ungewöhnlich macht, ist, dass sie die ideale Idee eines Freibads verkörpert. Das bedeutet zuerst einmal: Wasser. Viel Wasser. Dieses Freibad hat die zweitgrößte zusammenhängende Wasserfläche in Europa; ein einziges zusammenhängendes Becken von 7500 Quadratmetern, das in verschiedene Bereiche unterteilt ist. Ich selbst habe dort als Kind viel Spaß erlebt, habe Herausforderungen gemeistert wie nirgendwo sonst. Freunde habe ich dort gefunden. Das alles macht ein Freibad aus. Es geht um viel mehr als ums Schwimmen.

Zum ersten Mal quer durch das Becken habe ich mich nicht etwa in Begleitung von Mutter oder Vater gewagt, sondern mit meinem Bruder, der damals gerade mal elf Jahre alt war. Unter seinen oft sehr kritischen Augen lernte ich den Kopfsprung, zuerst vom Beckenrand, dann vom Drei- und Fünfmeterbrett. Ich bin auch vom Zehner gesprungen, allerdings immer nur stocksteif wie ein Brett, mit den Füßen voran. Es ging jedes Mal um eine Wette, die mein Bruder bei irgendwelchen Kumpels auf mich abgeschlossen hatte. Er gewann jedes Mal, ich hätte mich eher umgebracht, als ihn zu blamieren. Es war der Preis dafür, dass ich ihm zwar nicht am Rockzipfel, aber am Hosenbund hing - die allgegenwärtige kleine Schwester, die ihn bei seinen Schwimmbaderoberungen störte.

Aber das dauerte nicht lang. Mit zwölf Jahren hatte ich meine eigene Clique, Barbara, eine Klassenkameradin meines Bruders, lud mich auf ihre Decke ein. Barbara kannte jeden. Und irgendwann forderte mich so ein jeder auf: »Kommst du mit mir schwimmen?« Das war damals wie eine Aufforderung zum Tanz.

Vor genau 110 Jahren wurde die Waschmühle eröffnet. Ermöglicht haben das Bad die Einwohner des reichen Morlautern. Sie dachten nicht daran, wie teuer der Unterhalt eines solchen weißen Elefanten in Gestalt eines Schwimmbads sein würde. Umso größer waren die Versuchungen von Seiten der Kommunalpolitik, die Waschmühle drastisch zu verkleinern, wenn nicht sogar zu schließen. Aber das ließen sich die Lauterer nicht gefallen, die bis heute um ihre Freibäder kämpfen. Das Thema ist nicht vom Tisch. Der Stadtrat hat mehr als klar gemacht, dass sich Kaiserslautern keinesfalls drei Freibäder leisten kann. Und die Waschmühle ist das traditionsreichste, aber auch kostenintensivste davon.

Siebzig Freibäder haben die Kommunen in ganz Deutschland - ob Ost oder West - allein im letzten Jahr geschlossen. Andere sind noch erhalten, weil Bürgerinitiativen sie in eigener Regie übernehmen. Prosperierende Gemeinden aber bauen eher Spaßbäder, die fürs Schwimmen ungeeignet sind. Die Folge, so beklagen der Deutsche Schwimm-Verband wie auch die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft: Immer mehr Kinder lernen nicht mehr schwimmen. Vierzig Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen schaffen das Leistungsabzeichen Freischwimmer nicht. Das verlangt, 400 Meter in 25 Minuten zu schwimmen, zu springen und zu tauchen. Schwimmkurse haben lange Wartelisten. Wie die Eintrittspreise der Bäder kann sie sich aber nicht jeder leisten.

So kommt es, dass viele Kinder nicht einmal den Kontakt zum Wasser kennen, wenn sie den ersten Schwimmkurs besuchen. Ihnen fehlen rudimentäre Erfahrungen, zum Beispiel wie es ist unterzutauchen. Zu dieser Entwicklung tragen nicht nur die hohen Preise, sondern auch Bademeister und Schwimmerlehrer ihren Teil bei. So wie ich mich in der Waschmühle mit ihnen gestritten habe, weil sie von mir verlangten, eine Haube zu tragen, von meinem Bruder aber nicht, obwohl dessen Haare viel länger als meine waren, so kämpfte ich später darum, mich mit meinen Sohn im Schwimmerbereich aufzuhalten, was mir die Bademeister versuchten zu verwehren. Auf meinen Einwand, im Kinderbecken könne mein Sohn wohl kaum schwimmen lernen, mit all den Kindern, die von rechts und links ins Becken sprangen. Mit anderen Kindern zu toben, natürlich machte ihm das Spaß, aber irgendwann sucht er die Herausforderung des tiefen Beckens, wo er sich zu Anfang nur ein paar Meter wie ein Hund paddelnd fortbewegte, aber stolz auf sich und seine Leistung. Zum Leben gehören das Risiko und der Mut dazu. Was bin ich der Waschmühle und den Bademeistern dort dankbar, dass sie sich hauptsächlich für die Bademütze interessiert haben und dafür, dass der Platz unterm Sprungturm freigehalten wurde.

Ganz klar, wir brauchen viele Orte, wo Kinder und auch Erwachsene schwimmen lernen können. Keine Spaßbäder. Die nützen gar nichts. Wir brauchen Freibäder. Wir brauchen geschützte Schwimmstellen an Badeseen. Wir brauchen Initiativen, die das Schwimmen wieder unter die Menschen bringen, ohne Leistungsgedanken. Es geht darum, dass Schwimmen Spaß macht. Freibäder, die keinen oder so gut wie keinen Eintritt kosten, so wie im 19. Jahrhundert. Das bedeutet der Begriff Freibad nämlich: dass die Menschen dort nichts zahlen und so die Freiheit haben, etwas zu lernen, Grenzen zu überwinden und anderen fremden Menschen zu begegnen.

Letztes Jahr habe ich in der Waschmühle die Tochter einer Freundin getroffen. Es waren mindestens zehn junge Leute bei ihr. Von unterschiedlichster Herkunft, jedenfalls äußerlich, es kann gut sein, dass sie alle gebürtige Deutsche waren. Und dann stand einer der jungen Männer auf und fragte das Mädchen vor ihm etwas. Sie sprang auf und schüttelte ihre langen blonden Haare. Die beiden rannten zum Beckenrand und sprangen in weiten Kopfsprüngen hinein. Manches hat sich über all die Jahre nicht geändert.

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