Ein Lehrstück in Sachen Radikalisierung

7.500 Menschen waren am Sonntag im Hambacher Forst. Die Polizei bringt mit ihrer Taktik immer mehr Menschen dazu, sie zu ignorieren.

  • Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt dieses Lied von Franz-Josef Degenhardt, »Botschaft an meine Enkelin«. In dem Lied spricht er aus der Sichtweise einer militanten Aktivistin der 1970er Jahre eine unbekannte Enkelin an und fordert sie auf, wenn sie denn möchte, aus seinem Aktivismus zu lernen: »Vielleicht träumst Du auch noch von der letzten Schlacht. Dann lernst Du aus diesen Briefen vielleicht, wie man sich wehrt und Fanale entfacht, und welche schrecklichen Fehler man macht.« Manchmal sind es aber gar nicht die politisch aktiven Menschen, die Fanale entfachen, sondern die Staatsmacht selbst. Immer dann, wenn der Staat so handelt, dass Menschen einfach nur mit Unverständnis reagieren, trägt er essenziell zur Vergrößerung und Radikalisierung von Bewegungen bei.

Rückblick: Vor knapp zwei Wochen wurde im Hambacher Forst der Tag X ausgerufen. Bei »Aufräumarbeiten« im Wald war der erste Baum gefällt worden. Dem Aufruf zu Aktionen folgten damals allerdings nur einige hundert Menschen. Seitdem ist viel geschehen. Ganze Baumhausdörfer wurden von der Polizei mit Sondereinsatzkommandos geräumt. Ein Fotograf starb beim Sturz von einer Brücke zwischen zwei Bäumen. Die Bilder aus dem kleinen Wald gingen um die Welt, und mit ihnen machte sich bei immer mehr Menschen Unzufriedenheit breit. Zum traditionellen Waldspaziergang des Naturführers Michael Zobel kamen am letzten Sonntag schon tausende Menschen, und auch in dieser Woche war es nicht anders. Eine Unwetterwarnung und ausgefallene S-Bahnen konnten über 7.000 Menschen nicht davon abhalten, zum Hambacher Forst zu kommen. In den Wald sollte der Spaziergang nicht gehen, das hatte die Polizei verboten, und das wurde auch gerichtlich bestätigt. Nach dem Willen der Polizei sollten nur Gruppen von fünf Menschen in den Wald gehen, nachdem sie vorher von Beamten durchsucht wurden. Daraus wurde aber nichts. Die Demonstranten nutzen einfach Felder und Wiesen, um an der Polizei vorbei in den Wald zu gehen. Nach ersten Versuchen, das zu unterbinden, gab die Polizei schnell auf und ließ die Menschen in den Wald gehen. Dabei konnte man sehr gut beobachten, dass es nicht junge Autonome waren, die sich ihre eigenen Wege in den Wald suchten, sondern viele ganz normale Bürger in einer Altersspanne von acht bis achtzig Jahren.

Wie konnte es so weit kommen, dass ganz normale Menschen nicht mehr auf die Anweisungen der Polizei achten? Durch ständige Tricks, Lügen und Halbwahrheiten, die von Polizei, Politik und RWE in den letzten Wochen verbreitet wurden. Angefangen bei der Präsentation von gefährlichen Gegenständen wie Zwillen, Blasrohren und Messern, bei der das Innenministerium aber nicht erwähnte, dass diese schon vor zwei Jahren gefunden worden waren, bis zum Trick, die Baumhäuser aus Brandschutzgründen zu räumen, obwohl die eigentlich zuständigen Kreise der Rechtsauffassung waren, dass die Baumhäuser keine Bauten im rechtlichen Sinne sind. Die Räumung der Baumhäuser, knapp einen Monat, bevor RWE mit der Rodung beginnen will, ist somit eine rein politische Entscheidung. Die nordrhein-westfälische Landesregierung handelte hier, obwohl noch keine rechtliche Notwendigkeit besteht. Auch der Umgang von NRW-Innenminister Herbert Reul mit dem Tod des Fotografen Steffen Meyn erzürnt viele Menschen. Reul hatte angekündigt, die Räumung auszusetzen. Die Einsatzkräfte waren allerdings weiter im Wald präsent und störten sogar eine Trauerfeier für den getöteten Fotografen.

Das lassen sich viele Menschen nicht mehr bieten. Während der Innenminister am Sonntagabend in der WDR-Sendung »Westpol« von »Kriminellen« sprach, die Barrikaden auf den Waldwegen errichteten, waren es am Sonntagnachmittag eben keine »Kriminellen« oder wenigstens »Linksextremisten«, die den Wald verbarrikadierten. Sondern Omas mit ihren Enkeln und viele andere ganz normale Bürger. Und auch beim Barrikadenbau erlebten die Menschen einen nur schwer nachvollziehbaren Polizeieinsatz. Erst schauten Einsatzkräfte zu, dann gingen sie mit einer kleinen Gruppe in die Menschenmenge, fühlten sich bedrängt, setzten Pfefferspray ein und zogen sich wieder zurück. Wieder einmal standen viele Menschen, die nicht oft bei Demonstrationen sind, fassungslos um den Polizeieinsatz herum und fragten sich, was dort gerade passiert.

Unter den SPD-geführten Landesregierungen war die Polizei in NRW stark auf Deeskalation ausgerichtet. Einen Konflikt wie den im Hambacher Forst hätten Innenpolitiker und Polizeiführung wahrscheinlich »einschlafen« lassen. Räumungen hätten nur in kleinen Abschnitten stattgefunden, man hätte gewartet, bis es wirklich Herbst wird und nur noch hartgesottene Aktivisten in den Wald kommen. Der Hambacher Forst wäre nicht zu dem Symbol geworden, das er jetzt ist. Die schwarz-gelbe Regierung unter Armin Laschet kann oder will offenbar nicht so handeln. Damit hat sie unfreiwillig einen enormen Anteil daran, dass der Hambacher Forst zum Kristallisationspunkt der Klimafrage in der Bundesrepublik geworden ist. Die Bewegung zum Erhalt des Waldes wächst täglich. Immer mehr Menschen kommen in den Wald und unterstützen die verbliebenen Besetzer. Wenn CDU und FDP nicht in nächster Zeit ihre Strategie ändern, dann machen sie sich zum Gegner eines erheblichen Teils der Bevölkerung und werden auch an anderen Orten und zu anderen Themen radikale Proteste erleben.

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