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Opium ist aus der Mode

Unumstritten war er nie: Zum 70. Geburtstag des kritischen Philosophen Christoph Türcke

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 6 Min.

Was haben heutige Zappelkinder womöglich mit archaischen Menschenopfern zu tun? Christoph Türcke hatte nie Angst vor großen Bögen. Mit Rückblicken auf Rudolf Ottos Religionswissenschaft, auf Walter Benjamin und die Nietzsche- und Freudlektüre von Horkheimer und Adorno rekonstruiert seine historisch-materialistische Medientheorie einen weiten Weg von den bewegten und bewegenden Bildern einstiger Opferrituale zur Bannung der Schrecken der Natur bis zu den audiovisuellen Dauerstimulationen heutiger elektronischer Medien. Am Ende dieses Bogens steht die »Volkskrankheit« ADHS: Das archaische Erschrecken vor den Naturgewalten und seine Bearbeitung in Menschenopfern säßen traumatisch tief im kulturellen Gedächtnis. So werde ein »Wiederholungszwang« zum »Kulturstifter«: Der alltägliche Bildschock der digitalen Kulturindustrie macht zwar nicht jeden krank, doch sei die Verbreitung dieser Erkrankung ein Symptom des Gesamtzustands einer medialen Übererregung.

Diese weit gespannte These, von Türcke 2012 in seinem Buch »Hyperaktiv - Kritik der Aufmerksamkeitsdefizit-Kultur« ausformuliert, exemplifiziert die Arbeitsweise des 1948 im niedersächsischen Hameln geborenen Philosophen. Für sein Schaffen stellten sich die Weichen in den 1980er Jahren. Zu dieser Zeit kam die »Frankfurter Schule« mit ihrem auf Gesellschaftsveränderung zielenden Impetus aus der akademischen Mode. Eine Generation kritisch gestarteter Philosophen und Soziologen flüchtete oft zu Niklas Luhmanns Systemtheorie, in der kaum Platz ist für Menschen, die aus eigener Kraft eine neue Gesellschaft bauen. Andere wiederum schlossen sich Jürgen Habermas’ Kommunikationstheorie an, der zufolge soziale Verbesserung auf vernünftigem Austausch unter Gelehrten fußt und die das Fernziel einer Umwälzung durch ein sozialdemokratisches Verständigungsideal ersetzt.

Türcke hingegen beharrte darauf, dass »wer die Gegenwart in Gedanken erfasst«, kaum etwas finde, »was nicht im Prinzip schon bei Benjamin, Horkheimer und Adorno stünde«. Es ging ihm freilich nicht um die Bewahrung eines Kanons und Jargons. Er wollte in diesem Geiste aktuelle Phänomene ergründen. Und das in einer Sprache, die nicht nur Theorieexperten zugänglich sein sollte - sowie in Medien, die sich nicht nur an Eingeweihte richteten. So wurde Türcke in der westdeutschen Großdebatte der 1980er Jahre schlechthin - dem sogenannten Historikerstreit - zum einflussreichsten linken Kritiker des damals allgegenwärtigen Jürgen Habermas. Er analysierte, wie dieser »die Kritische Theorie salonfähig gemacht hat«, indem er ihr die Zähne ausbrach. In Lüneburg entstand der Zu-Klampen-Verlag, in dem Türcke lange der spiritus rector gewesen ist - wie auch in der »Zeitschrift für kritische Theorie«.

Promoviert hatte Türcke in den späten 1970er Jahren in Frankfurt zu einem Thema, das derzeit noch aktueller zu sein scheint als ADHS: Religionskritik. In seiner Dissertation »zum ideologiekritischen Potential der Theologie« arbeitete er an einer »materialistischen Paulus-Interpretation«. Wie für den frühen Marx war Religionskritik für ihn Ideologiekritik - in seinen Worten: »rationale Gesellschaftskritik«.

Das ist fürwahr ein Ansatz, den man sich zurückwünscht in einer Zeit, in der dieses wichtige Feld von der populären Pseudokritik Thilo Sarrazins und anderer Dunkelmänner beansprucht wird. Deren antireligiöses Gehabe ist nur zum Schein aufgeklärt (vor allem nicht über die sozialen Konditionen des eigenen Denkens). Indem man den Islam verteufelt, immunisiert man eine im Ganzen irrationale Gesellschaft, nämlich die sogenannte westliche, gegen ihre eigenen Widersprüche.

Türcke hingegen sah, dass »die marxsche Religionskritik« ihren »Maßstab der Kritik der kritisierten Tradition« entnahm. Denn: »Nur eine Theorie, in deren Innersten das Feuer der Erlösungsidee brennt, ist in der Lage, die Totalität des Kapitalverhältnisses als falsche Totalität zu durchschauen und angemessen darzustellen.« Im sich zumeist so aufgeklärt vorkommenden Kapitalismus, schrieb Türcke, »herrscht Religion umfassender und blinder denn je, weil sie nicht nur in den Köpfen, sondern in dem Bewegungsgesetz der Gesellschaft steckt - und die Köpfe zudem nicht ahnen, dass sie voll davon sind.« Der Unmut darüber, dass sich die Menschen heute mit kümmerlichem Religionsersatz zufriedengeben, während sie »zu Marx’ Zeit immerhin noch Opium verlangt« hätten, führte Türcke Ende der 1980er Jahre zur Kultur- und Vernunftkritik Friedrich Nietzsches. Sein Buch »Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft« ist ein Gegenmittel zu jener - in der linken Szene bis heute bisweilen anzutreffenden - Halbbildung, für die Nietzsche noch immer nach »konservativer Revolution« riecht.

Nachdem Türcke in Lüneburg gelehrt und sich in Kassel habilitiert hatte, knüpfte er Kontakte, die ihn als Professor ins brasilianische Porto Alegre führten. 1993 übernahm er eine Professur für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, die er bis 2014 innehatte. Daneben lehrte er an der Leipziger Universität - und immer wieder in Brasilien.

Ein Grund dafür, dass Türcke in den Debatten der Nachwende-Linken nicht unumstritten war, ist sein Beitrag auf dem »Konkret«-Kongress »Was tun« im Jahr 1993: Seinen Versuch, linke Rassismuskritik als einen Fetisch zu entlarven, der für das Verzagen an der Revolution entschädigen soll, konnte er dort nicht plausibel machen. Sein Plädoyer, nur eine Hierarchisierung von »Rassen«, nicht aber deren Unterscheidung »Rassismus« zu nennen und Immanuel Kants Rassekonzept für eine Kritik der Globalisierung zu retten, überzeugte nicht. In der monatelangen Debatte, die hernach in der Zeitschrift geführt wurde, verstand man Türckes Kritik am konstruktivistischen Ansatz als eine Rückkehr zu einem Naturalismus der »Rassen«.

Viele Linke fremdeln seither mit ihm. Das ist so nachvollziehbar wie schade. Der Linken entgehen nicht nur nach 2000 verfasste religionsphilosophische Studien allerersten Ranges zu Jesus, Luther und Hiob. Auch Türckes originelle Aktualisierung der kritischen Theorie sowie seine zeitdiagnostischen, kulturkritischen Interventionen verdienten mehr Beachtung. So nahm er sich einige Jahre nach den Zappelschülern auch der Lehrer an. In seinem 2016 erschienenen Buch »Lehrerdämmerung« geht er dem Gedanken nach, dass Schule und Gruppenunterricht in Zeiten des digitalen Kapitalismus tendenziell so überflüssig werden wie die Fabrik als Stätte kollektiver Lohnarbeit. Kosten für Infrastruktur und schwerfällige Institutionen können eingespart werden, Lehrpersönlichkeiten als Instanzen, an denen Heranwachsende sich auf dem Weg zu freier Selbstbestimmung gedanklich-emotional abarbeiten können, gelten mehr und mehr als überflüssig. Doch dieser Um- und Abbau der Schule führt zu Vereinzelung und schwächt die Fähigkeit zum Widerstand.

Ob es nun hiergegen hilft, in der Schule wieder mehr Gedichte auswendig zu lernen, wie Türcke vorschlägt, mag dahinstehen. Über seine praktischen Vorschläge lässt sich unter Linken ebenso streiten wie etwa über seine Marx-Kritik in der »Philosophie des Geldes«, die 2015 erschien - oder sein Plädoyer für eine Rehabilitierung des Heimatbegriffs, den Türcke 2006 dem Nationalen gegenüberstellt. All das lädt natürlich auch zur Kontroverse ein. Wer Türcke aber nur aburteilen möchte, wird schnell feststellen, dass dieser auf vielen Positionen, die sich zu diesem Zwecke anzubieten scheinen, schon gestanden hat: Eine angemessene Auseinandersetzung mit seinem Werk wäre ein umfangreiches Unternehmen im Feld der intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik.

Dass der Geburtstag dieses streitbar-umstrittenen Kopfes gerade auf den den 4. Oktober fällt, hatte vor 70 Jahren noch keine besondere Bedeutung. Heute hingegen passt das Datum: Nach der Feier des Nationalen schlägt die Stunde der Kritik.

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