Im Wendewunderland

Wenn das Gedenken an die Wende von 1989 zum Event wird, nutzt das nur der AfD

  • Fabian Hillebrand, Leipzig
  • Lesedauer: 5 Min.

Als in Bischofferode 1993 die Kalikumpel gegen die Schließung ihres Werkes protestierten, schlossen sich ihnen viele DDR-Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler an. Das Aus der Grube war schon seit Wochen besiegelt, da trat neben 41 Bergleuten auch Christine Grabe in einen Hungerstreik. Die Abgeordnete der Grünen engagierte sich in der DDR in der kleinen oppositionellen Gruppe »Frauen für den Frieden«, der im Herbst 1989 eine wesentliche Rolle in den neu entstandenen Bürgerbewegungen, vor allem im »Neuen Forum« und bei »Demokratie Jetzt« zukam. Die Menschenrechtlerin Bärbel Bohley war ebenfalls in der Grube in Bischofferode. Sie unterbrach ihren Urlaub in Italien, um den Arbeitern Mut zuzusprechen, und sagte: »So was wie hier hätte ich mir schon viel früher gewünscht.«

Es sind solche Momente, die in herrschenden Erzählungen von der DDR-Opposition oft untergehen. Dass die Proteste 1989 weit links von dem standen, was die Geschichtsschreibung von ihnen übrig gelassen hat, wird oft vergessen. Es ist ein ganzer Gründungsmythos, der auf der Vorstellung fußt, die Widerstandsbewegung in Ostdeutschland wollte vor allem: Volk sein, Schwarz-Rot-Gold, D-Mark, Volkswagen fahren.

Ein anderer DDR-Bürgerrechtler, Thomas Klein, hat es jüngst wie folgt formuliert: »Abgekoppelt von ihrer Entwicklungsgeschichte wird der vormalige Charakter der DDR-Opposition aus der Vereinbarkeit gewisser damaliger Ziele mit den heutigen deutschen Verhältnissen bestimmt.« Es passt einfach besser in die bundesdeutsche Erzählung der Einheit, dass die gesamte damalige Widerstandsbewegung sich für Warenvielfalt und westdeutsche Demokratie eingesetzt habe, statt für eine »Gesellschaft fernab von Stalinismus und Kapitalismus«, wie es der »Revolutionäre Autonome Jugendverband« einst formulierte. Passend zu dieser nachträglichen Umwidmung sind auch die meisten Veranstaltungen, die an das Aufbegehren im Jahr 1989 erinnern, mehr Marketing als kritisches Gedenken.

So auch das »Lichtfest« in Leipzig. Es erinnert an die mehr als 70 000 Menschen, die am 9. Oktober 1989 in der Stadt für Demokratie und Freiheit demonstrierten. Mit einem Marsch auf dem Leipziger Ring setzten sie eine Entwicklung in Gang, die letztlich in den Mauerfall und das Ende der DDR mündete. Andreas Raabe, Chefredakteur des Leipziger Stadtmagazins »Kreuzer«, nannte die Veranstaltung schon 2014 ein »kitschiges Revolutions-Disneyland«, das konstruktives Erinnern verhindere. Veranstaltet wird der »Wendeschmalz« von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH, ein weiterer Hinweis darauf, dass die Eventisierung der Wende bereits weit fortgeschritten ist.

Zum diesjährigen »Lichtfest« hat sich eine Gruppe junger Menschen zusammengetan, um Licht »auf die Schattenseiten der Wende und Nachwendezeit« zu werfen. Sie kritisieren, dass eine Erzählung, die mit dem Anschluss der DDR endet und die breite gesellschaftliche Unzufriedenheit und Enttäuschung der frühen 1990er Jahre in Ostdeutschland ausklammert, nicht in der Lage ist, die historische Realität dieser Zeit zu begreifen.

Das »Lichtfest« ignoriert die zahlreichen biografischen Brüche und Enttäuschungen der Ostdeutschen, kritisiert die Gruppe, die sich den Namen »Aufbruch Ost« gegeben hat. Denn auf die Aufbruchsstimmung von ’89 folgte die Abwicklung der Planwirtschaft der DDR. Zentraler Akteur bei dieser Abwicklung war die Treuhandanstalt. Die Einführung der Marktwirtschaft und die Veräußerung zahlreicher ostdeutscher Betriebe führten dazu, dass nach kurzer Zeit über drei Millionen Menschen arbeitslos wurden. Die Folge: Massenhafte Proteste, Arbeitsniederlegungen, Hungerstreiks und Autobahnblockaden. Das »Lichtfest« entwerfe demgegenüber ein Wendewunderland, in dem die Wiedervereinigung unkritisch als voller Erfolg gefeiert werde.

Das hat Konsequenzen, argumentiert die Gruppe im Gespräch mit »nd«. Die Verletzungen von damals würden auch die Politik von heute bestimmen. Viele der Gruppe haben Familienmitglieder im Osten, die inzwischen AfD wählen würden, erzählen sie. Dies sei für viele ein Grund gewesen, sich mit den spezifischen ostdeutschen Verhältnissen zu beschäftigen. Besonders mit der Nachwendezeit und der Enttäuschung, die auf das Aufbegehren von 1989 folgte. Denn diese Entwicklung habe dem Populismus von heute den Boden bereitet.

Der Soziologe Wolfgang Engler beschrieb das in der »Zeit« so: »Diese Enttäuschung im Maßstab von Millionen bot und bietet Anknüpfungspunkte für eine Mobilisierung, Politisierung, Instrumentalisierung von rechts, die umso leichter gelingt, je großzügiger die politische Linke dieses Potenzial ihrerseits rechts liegen lässt.«

Oder, anders formuliert: Die Enttäuschung mancher Ostdeutscher wird von der AfD für ihre politischen Zwecke angegraben. Die Empfänglichkeit des Ostens für rechtspopulistische und rechtsradikale Kräfte liegt in den wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen begründet, die mit den Ereignissen, an die in Leipzig mit dem »Lichtfest« erinnert werden soll, ihren Anfang nahmen. Die Gruppe fordert daher eine »strukturelle und öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung der Wende- und Nachwendezeit«

Damit liegen die jungen Leipziger im Trend. Die Besonderheiten Ostdeutschlands werden seit den Wahlerfolgen der AfD breit diskutiert. Petra Köpping, Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, füllt mit ihrem Buch »Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten« gerade jeden Veranstaltungsraum im Osten. Und keine Woche vergeht, in dem nicht ein Journalist in einem neuen Essay im Feuilleton einer deutschen Zeitung sein Aufwachsen in Ostdeutschland reflektiert.

Bei dem »Lichtfest« will die junge Gruppe auf dem Marktplatz versuchen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Die Politisierung der Erinnerung ist zweifelsohne wichtig. Ob der »Aufbruch Ost« verhindern wird, dass die AfD bei den Landtagswahlen noch einmal zulegt, ist zu bezweifeln. Es schadet aber ganz sicherlich nicht, wenn daran erinnert wird, dass die AfD sich zwar oft mit den Protesten von ’89 identifiziert, eigentlich aber nichts mit diesem Aufbegehren gemein hat. Und dass die Menschen damals für mehr auf die Straße gegangen sind als für Kohl und Cola.

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