Schweigeminute für Brasiliens Demokratie

Rechtsradikaler gewinnt Stichwahl um das Präsidentenamt / Soziale Bewegungen kündigen Massenproteste an

  • Niklas Franzen, São Paulo
  • Lesedauer: 5 Min.

Für einen kurzen Moment herrscht Totenstille, dann beginnt das Schluchzen. Menschen liegen sich in den Armen, vielen steht die Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Denn gerade wurde das bekannt gegeben, was viele befürchtet hatten: Der Rechtsradikale Jair Bolsonaro hat die Stichwahl um die brasilianische Präsidentschaft gewonnen und den Kandidaten der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, geschlagen. Mit 55,13 zu 44,87 Prozent fiel der Wahlsieg deutlich aus.

Seine Partei hatte am Sonntagabend in ein Hotel im Zentrum von São Paulo geladen. Die gesamte Führungsriege der Partei, Mitglieder von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowieso Pressevertreter aus der ganzen Welt sind anwesend. So auch der ehemalige Senator der PT, Eduardo Suplicy. »Das ist ein sehr trauriges Resultat für uns«, sagt die sichtlich geschockte Kultfigur der Arbeiterpartei dem »nd«. »Jetzt müssen wir reflektieren, was falsch gelaufen ist.«

Auf der Pressekonferenz in einem überfüllten Konferenzraum wird eine Schweigeminute für die Demokratie und die Opfer der rechten Gewalt gehalten. Dann hält Fernando Haddad an der Seite von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff eine kurze Rede. Von seinen Anhängern wird er zwar bejubelt, dennoch überwiegen an diesem Abend Traurigkeit und Fassungslosigkeit.

Nur wenige Straßenzüge entfernt, sieht es ganz anders aus. Tausende Anhänger von Jair Bolsonaro haben sich auf der Avenida Paulista, der Prachtstraße der Megametropole, versammelt. Schon von weitem hört man Feuerwerkskörper, Autohupen und Gebrüll. Die für den Verkehr gesperrte Straße gleicht einem Meer aus Gelb und Grün. An jeder Ecke stehen Straßenverkäufer*innen, die T-Shirt und Fahnen mit dem Konterfei von Bolsonaro verkaufen. Polizisten posieren gut gelaunt mit Bolsonaro-Fans für Fotos. Mehrfach wird die Nationalhymne gesungen, es wird getanzt, gesungen, gelacht.

Doch der friedliche Schein trügt: Die Stimmung schwankt zwischen Volksfest und Pogrom. So wird ungeniert gegen politische Gegner gehetzt und offen die blutige Militärdiktatur (1964-1985) verherrlicht. Ein junger Mann zeigt mehrmals den Hitlergruß, während ein Redner die Politiker der Arbeiterpartei von der Bühne aus vulgär beschimpft. Mehrere Anwesende tragen Uniformen des Militärs, kleine Kinder formen ihre Hände zu Pistolen und immer wieder rufen die Anwesenden den Schlachtruf »Brasilien über alles.« Die Anhänger Bolsonaros haben die menschenverachtende und faschistoide Rhetorik ihres Idols verinnerlicht.

Auch Daniel Souza hat Bolsonaro gewählt. »Jetzt werden wir endlich einen nicht-korrupten Präsidenten haben«, sagt der 25-Jährige dem »nd«. Zwar sei er Demokrat, aber bestimmte Werte, die das Militär verkörpere, müssten jetzt in Brasilien umgesetzt werden. Cristiane Silva verspricht sich von Bolsonaro vor allem eine Verbesserung der Sicherheitslage. »Ich muss endlich in der Lage sein, ohne Angst auf die Straße zu gehen.«

Bis spät in die Nacht dauern die Feiern der Bolsonaro-Fans. Zwischenzeitlich geraten Gegner*innen und Befürworter*innen Bolsonaros aneinander, die Polizei setzt Gummigeschosse und Tränengas ein.

Lange Zeit sah es so aus, als würde Bolsonaro einen erdrutschartigen Sieg einfahren. Doch in der letzten Woche war Haddads Zustimmungswerte in den Umfragen immer weiter gestiegen. Seine Anhänger und engagierte Antifaschist*innen hatten im ganzen Land einen offensiven Straßenwahlkampf geführt, um die Wahl Bolsonaros doch noch irgendwie zu verhindern. Dass es am Ende doch nicht gereicht hat, könnte auch an der mangelnden Unterstützung gelegen haben. Viele Politiker*innen anderer Parteien gaben keine Wahlempfehlung für Haddad ab oder unterstützen sogar offen Bolsonaro. Auch dem drittplatzierten Sozialdemokraten Ciro Gomes wird nun vorgeworfen, sich mit Unterstützung für Haddad zurückgehalten zu haben. Dieser war lange Zeit farblos geblieben und hatte es schwer mit seiner sachlichen Art dem auf Fehlinformationen und plumpen Populismus fußenden Wahlkampf von Bolsonaro etwas entgegenzusetzen.

Nach seinem Wahlsieg erklärte der Rechtsaußenpolitiker: »Ich werde das Schicksal des Landes verändern. Jetzt wird nicht weiter mit dem Sozialismus, dem Kommunismus, dem Populismus und dem Linksextremismus geflirtet.« Die Wahl des ultrarechten Bolsonaro, der von vielen als Faschist bezeichnet wird, könnte einen radikalen Politikwechsel nach sich ziehen. Der frühere Fallschirmjäger will den Zugang zu Waffen erleichtern, wichtige Ministerien mit Militärs besetzen und möglicherweise aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen. »Bolsonaro steht für Autoritarismus und Rückschritt. Ich sehe eine klare Parallele zum Militärputsch von 1964«, sagt Silvia Perreira, die seit vielen Jahren Mitglied in der PT ist und zur Zeit der Diktatur aufgewachsen ist.

Vor wenigen Tagen kündigte Bolsonaro an, »Säuberungen« durchführen zu wollen: Dazu will er politische Gegner aus dem Land werfen und soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen lassen. »Das ist eine explizite Kampfansage an die Demokratie. Mit ihm wird ein Klima der Verfolgung installiert«, sagt der PT-Aktivist William Osake dem »nd«.

Aus mehreren Städten wurden bereits Angriffe gemeldet. In Curitiba sollen Rechte am Wahlabend einen Schwulenclub angegriffen haben. Am Samstag wurde ein junger Mann auf einer PT-Kundgebung erschossen, der Täter soll den Namen Bolsonaros gerufen haben. Ebenfalls am Samstag haben Rechte ein Camp der Landlosenbewegung MST angegriffen und mehrere Zelte in Brand gesetzt. Aktivist*innen befürchten, dass die Gewalt gegen Linke, LGBTI und Journalist*innen nun stark zunehmen wird. Soziale Bewegungen haben angekündigt, gegen den Rechtsradikalen auf die Straße zu gehen. Am Dienstag sollen in São Paulo und Rio de Janeiro Demonstrationen stattfinden.

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