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Kalter Kaffee? Mmh, lecker!

»Leto«, Kirill Serebrennikows Film über den sowjetischen Kultsänger Wiktor Zoi

Seit August 2017 steht der Moskauer Film-, Theater- und Opernregisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest. Ihm wird vorgeworfen, als künstlerischer Leiter des Moskauer Avantgarde-Theaters Gogol Center umgerechnet 1,8 Millionen Euro an staatlichen Subventionen veruntreut zu haben. Es gibt eine internationale Kampagne für seine Freilassung, Serebrennikow gilt als Opfer der Repression in Russland.

Was daran stimmt und was nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Einerseits dominiert in der westlichen Politik die Haltung, fast jede Handlung des russischen Staats skandalisieren zu wollen, andererseits scheint die russische Gesellschaft mehr und mehr illiberaler zu werden. Besonders die Kirche wird mächtiger, das ist nie ein gutes Zeichen.

Serebrennikows Ballett über die homosexuelle Tanzlegende Rudolf Nurejew wurde von der Kirche angefeindet, aber vom russischen Regierungssprecher Dmitri Peskow als »Stück von globaler Bedeutung« gefeiert. Die Uraufführung im vergangenen Dezember fand ohne den Regisseur statt. Serebrennikow war bei den Dreharbeiten seines neuen Films »Leto« verhaftet worden. Er hat ihn zu Hause am Computer fertiggestellt.

»Leto« ist ganz heiter geworden - und unpolitisch. Es geht um Wiktor Zoi, den Sänger der sowjetischen Untergrund-Rockband Kino, der durch seinen frühen Tod 1990 zum »Halbgott« wurde, wie Alexander Pehlemann in seinem Fanzine-Reportagenbuch »Go Ost!« schreibt. Serebrennikow hat kein Bio-Pic angefertigt, sondern beschränkt sich auf die künstlerisch entscheidenden Momente für Zoi, Anfang der 80er Jahre in Leningrad. Das Schöne daran ist, dass diese Zeit erstens in Form einer Liebesgeschichte und zweitens mit einer verspielten Popästhetik, überwiegend in Schwarz-Weiß gefilmt, erzählt wird.

Die Liebesgeschichte ist eine Dreiecksbeziehung. Der junge Wiktor Zoi (Teo Yoo) lernt den etwas älteren Musiker Mike Naumenko (Roma Bilyk) und dessen Frau Natascha (Irina Starshenbaum) kennen, im Sommer (»Leto«) am Meer, bei Weißwein und Wodka (wird hier durchgehend getrunken). Die 80er Jahre haben gerade angefangen, die Sowjetarmee kämpft zunehmend ratlos in Afghanistan und Gorbatschow ist noch nicht an der Macht.

In Leningrad eröffnet mit dem »Rockklub« die erste offizielle Location für ebendiese Musik. Es geht dort steif zu, man muss sitzen, und wer zu viel jubelt, wird von Aufpassern entfernt. Dafür wird hinter der Bühne umso mehr getrunken und geraucht - Papirossy, was sonst. Der matte Alltag wird belebt durch wilde Szenen, in denen immer jemand vor die Kamera tritt und sagt: »Das hat es nie gegeben, leider.« Da intoniert zum Beispiel der ganze Oberleitungsbus den Song »The Passenger« von Iggy Pop. Auch kämpfen die Musiker und ihr Gefolge im Zug gegen die Miliz und singen »Psycho Killer« von den Talking Heads. Das filmt Serebren- nikow als Mischung aus Real- und Trickfilm im Stil damaliger Musikvideos, wie sie auf MTV liefen: Sagen wir mal »Sledgehammer« von Peter Gabriel, falls sich jemand daran erinnert (oder es googeln will).

Im »Rockklub« ist Mike der Star, seine Musik klingt wie die von Bob Dylan Mitte der 60er Jahre. Seine Band heißt Zoopark. Eine frühere Band von ihm hieß »Vokal- und In- strumental-Band, benannt zu Ehren von Chuck Berry«, eine andere, sehr berühmte, war Aquarium. Mit Natascha und einem Baby wohnt er in einem großen Zimmer. Wenn Wiktor da ist, hören sie zusammen Musik von Velvet Underground auf Tonband. Oder sie zeichnen ein Plattencover von David Bowie oder von Blondie ab. Wiktor verkauft auch Porträts, die er von den Beatles oder von Marc Bolan angefertigt hat. Die sehen aus wie diese kitschigen Dinger, die man heute noch auf Jahrmärkten von sich selbst anfertigen lassen kann.

Textlich fällt Mike nichts mehr ein, sagen seine Mitmusiker. Wiktor hingegen gilt als potenzielles Juwel, das Mike zum Strahlen bringen will. Er spielt auf dessen erster Platte mit und auch bei seinen Konzerten. Völlig selbstlos und überaus freundlich - wie dieser Dreieckskiste hier die neurotische Spannung fehlt. Es ist dann doch nur eine »Schulhofliebe«, sagt Natascha.

In der rührendsten Szene kaufen sie und Wiktor für Mike eine Porzellantasse auf einem Flohmarkt und füllen sie mit Kaffee, den sie ihm nach Hause bringen, mit einer Fahrt im besagten Iggy-Pop-Bus. Mike trinkt dann den kalten Kaffee und freut sich trotzdem.

Die konzeptionellen Unterschiede von Mike/Zoopark und Wiktor/Kino werden deutlich, als beide auf einem dieser realsozialistischen Wohnzimmer-Privatkonzerte gefragt werden, wie sie denn auf die Bühne gehen würden, wenn sie es sich aussuchen könnten. Mike würde mit Harfe und Elefanten auftreten, sagt er. Wiktor möchte, dass die Bühne »eine kleine Bar ist, das wäre ein Traum«.

Der echte Wiktor Zoi hat hingegen 1988 in dem Film »Igla« (Die Nadel) mitgespielt und agierte dabei »wie eine Mischung aus Bruce Lee, Alain Delon und Ian Curtis meets Joe Strummer« (Pehlemann). In diesem Film von Raschid Nugmanow liebt Zoi als Hauptdarsteller eine Morphiumsüchtige und kämpft gegen die Drogenmafia. Die Form ist rasante Avantgarde, die Handlung verliert sich in Effekten und Symbolen, ähnlich wie in den künstlerischen Super-8-Filmen, die damals in der Westberliner Boheme gedreht wurden, oder auch in »Permanent Vacation«, dem Debütfilm von Jim Jarmusch von 1980.

In »Igla« liegen Schiffe in der Wüste, Blut tropft in den Schnee und Zoi rennt durch lange Straßenfluchten. Verglichen damit ist die Musikvideo-Ästhetik von »Leto« konventionell, sozusagen die geglättete Mainstream-Variante solcher Experimente. Trotzdem sahen damals 20 Millionen Menschen »Igla«. Unglaublich, aber wahr. Denn Zoi war schon ein Kultstar. Er starb bei einem Verkehrsunfall, Mike Naumenko nur ein Jahr später an einer Hirnblutung, 1991. In »Leto« sagt er zu Wiktor, als der mit seinen ersten Plattenaufnahmen unzufrieden ist: »Willst du, dass deine Lieder gefangen sind, in deinem Kopf? Lass sie frei.«

»Leto«, Russland/Frankreich 2018.

Regie: Kirill Serebrennikow; Darsteller: Teo Yoo, Roma Bilyk, Irina Starshenbaum. 128 Min.

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