Jeder Tag ein schwarzer Freitag

Gilt nicht nur in der Vorweihnachtszeit: Es gibt kein Menschenrecht auf billige Zustellarbeit

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Der kommende Black Friday läutet für den Handel das Weihnachtsgeschäft ein. Ein schwarzer Freitag ist das auch für die Lieferanten diverser Zustelldienste: Ihr Aufgabenfeld wächst beständig, jährlich steigt die Zahl ausgelieferter Pakete, bewältigter Treppenhäuser, eingesammelter Retouren und gerammelt voller Lieferfahrzeuge. Speziell in der Vorweihnachtszeit wird das ohnehin üppige Arbeitsaufkommen nochmal forciert. Sie ist der Ausnahmezustand in einem Beruf, der ohnehin dauernd in einem Ausnahmezustand ausgeübt wird.

Zusteller zu sein hat Systemrelevanz. Fast alles kann man sich heute ins Haus bringen lassen. Und fast überall wird Personal gesucht, um die Flotte derer, die etwas bis vor die Haustür tragen, zu erweitern. Briefe, Pizza, Burger, selbst richtige Restaurant-Speisen, dazu noch Pakete, Blumen, Möbel und Medikamente: Alles kann geliefert werden. Der Zusteller lebt in einer Hausse-Blase, in einem Bullenmarkt, seine Arbeitsleistung ist im Zeitalter des Bestellklicks der Rohstoff, der alles am Laufen hält. Das System des kollektiven Onlineshoppings ist ohne seine Arbeitskraft gar nicht umsetzbar. Ohne ihn läuft nichts.

So gesehen könnte man annehmen, dass er ein Gewinnertyp ist, weil es eine unglaubliche Nachfrage für das gibt, was er leistet. Die Realität sieht natürlich völlig anders aus. Zusteller arbeiten fast immer in prekarisierten Verhältnissen. Sie verdienen schlecht, die Arbeitszeiten sind lang, der Körpereinsatz geht dauerhaft auf die Knochen. Zudem werden Zusteller, diese systemrelevanten Getriebe unserer faulen neuen »Bring-es-mir-mal-vorbei«-Welt, weder geschätzt noch besonders gerne für ihre Leistung entlohnt. Wer bezahlt schon gerne Versandgebühren? Und klingeln diese Typen nicht immer zum falschen Zeitpunkt?

Letzteres geht offenbar so weit, dass Amazon sich vor einiger Zeit ein Angebot erdacht hat, welches den Zulieferer quasi unsichtbar macht. Nämlich den Amazon Key. Durch den können Lieferdienste, die etwas zum Amazon-Kunden bringen, in die Wohnräume eintreten und das Paket abstellen. Keiner wird mehr belästigt, niemand muss mehr zur Tür eilen, sich vorher noch schnell einen Schlüppi anziehen oder nass aus der Dusche wackeln: Der unsichtbare Handlanger verrichtet, ganz so wie im viktorianischen Britannien oder im wilhelminischen Deutschen Reich, seinen Dienst mit dienerischer Verstecktheit.

Wie man als Gesellschaft mit den Zustellern umgeht, sagt viel über den wirtschaftlichen Verfall aus. Selten zuvor hat man eine Zunft, die derart dringend benötigt wird, so schlecht und ehrlos behandelt. Das Beliefern als Massenmarkt ist Teil dieses neoliberalen »Wirtschaftswunders«, in dem menschliche Arbeitskraft bloß als jederzeit ersetzbare Ressource angesehen wird - und die daher weder geschützt noch fair bezahlt werden muss.

Das hat was von eben jenen viktorianischen oder wilhelminischen Zeiten, da man noch Gesinde durch die Gegend scheuchte, welches bitte kostengünstig und überdies unsichtbar fungieren sollte. Insofern ist dieses »Wirtschaftswunder« nicht Ausdruck eines Arbeitsmarktes, sondern hat alle Facetten einer dekadenten Ständegesellschaft. Der Umgang mit diesen Dienstleistern, die den »faulen Einkauf« vom Sofa aus sicherstellen, dokumentiert das nachhaltig.

Es ist ein subventioniertes, teils kostensozialisiertes System, das sich da herauskristallisiert. Eines, das durch zu moderate Rahmenbedingungen kostengünstige Zulieferdienste sichert: Ein niedriger Mindestlohn, halbjährige Probezeiten, Aufstocken niedriger Monatslöhne durch Hartz IV und laxe Kontrollen der Arbeitszeitprotokolle halten die Kosten künstlich niedrig. Dabei gibt es nun mal kein Menschenrecht auf billige Zustellarbeit. Wir leben nämlich nicht mehr anno 1890.

Sich Waren ins Haus schleppen zu lassen, ist eben kein kostenneutraler Service. Da steckt richtig Arbeit, ein Knochenjob dahinter. Weniger Arbeit wird es auch künftig nicht werden. Unsere moderne Arbeitswelt schafft nicht nur keimfreie Arbeitsplätze, wie das vermeintliche Experten gerne betonen. Hinter der Hochglanzfassade der Onlineshop-Masken steckt menschlicher Einsatz. Zur Vorweihnachtszeit noch mehr als sonst schon.

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