Menschen, die zum Amt müssen

Am Rand der Städte gibt es Stanislawski, Brecht und Petras: »Die stillen Trabanten« am Deutschen Theater Berlin

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 4 Min.

Es dauert einige Zeit, bis überhaupt ein Wort fällt. Derweil schaut man auf Peter Kurth. Der steht in einer Küche, macht den Gasherd an und Teewasser heiß, Beutel in die Tasse, erst ein Stück Würfelzucker, dann noch mal drei, umrühren.

Nur dass da weder eine Küche ist noch ein Herd noch Wasser oder Zucker oder eine Tasse oder ein Löffel. Da ist nur Kurth in seiner Security-Jacke auf der karg eingerichteten Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters, mit ein paar drehbaren Aufstellern im Hintergrund, und auch die werden später noch abgebaut, sonst nichts.

Das ist ein betont nüchterner Blick, und das passt, denn die Vorlage des Abends ausgewählte Erzählungen aus Clemens Meyers »Die stillen Trabanten« und eine aus dem Band »Die Nacht, die Lichter« besteht aus ebenso nüchternen Beobachtungen. Es sind Kurzgeschichten aus der Nacht, von den Rändern der Städte. Aber poetisch sind sie auch, und so schaut man gebannt auf das Als-Ob von Kurth, das Spiel ohne Gegenstand, das sich mittels der Fantasie des Publikums zu einem Bild fügt.

Der Regisseur Armin Petras, der schon 2008 Meyers »Als wir träumten« für die Bühne bearbeitete, verzichtet auf einen illustrativen oder naturalistischen Ansatz. Hier soll kein Milieu beglotzt werden, sondern sollen Menschen in Situationen gezeigt werden.

Ein sozialer Realismus, der laut Petras sowohl Stanislawskis Einfühlung als auch Brechts Verfremdung nutzt, der das Psychologische als Spiegel einer entfremdeten Um- und Mitwelt begreift. Bei Meyer sind das verfallene proletarische Lebenswelten; statt Fabrik, Familie und Gewerkschaft zeigen sie einsame Menschen in prekären Dienstleistungsjobs ohne politische Repräsentation. Menschen, die zum Amt müssen oder in einem Imbiss zusammenfinden. Es herrscht Bewegungslosigkeit, der Wind der Geschichte weht nicht in diesen Gefilden, wenn er denn überhaupt irgendwo zu verspüren ist. »Die Nächte waren öde und endlos«, das sind die ersten Worte, die in die Stille fallen.

Dass Meyers Erzählungen aber neben einer gewissen Sprödigkeit auch außerordentlich komisch sind oder zumindest so aufgeführt werden können, zeigt vor allem die erste Hälfte des knapp dreistündigen Abends. Wenn die Komik nicht gerade etwas aufgesetzt wirkt, dann entsteht sie, weil die Menschen gewissermaßen nicht im Takt sind, den Ton nicht treffen oder nicht den Zeitpunkt. Sie sind uneins, mit sich, mit anderen, mit der Welt. Besonders hervorzuheben ist die zweite der insgesamt sechs Szenen des Abends, in der Katrin Wichmann und Anja Schneider eine Reinigungskraft bei der Bahn und eine Friseurin spielen, die in einer Bahnhofskneipe aufeinandertreffen.

Gezeigt wird die mühselige Selbstbehauptung, changierend zwischen Statuskämpfen und Sehnsucht nach einem anderen, liebevollen Verhältnis zu dem anderen - und das in der ganzen Ungelenkheit, die allen eigen ist, die nicht allzu viel Schönes im Leben erfahren haben. Das ist dann auch schauspielerisch überzeugend, weil hier statt Karikaturen eben Charaktere dargestellt werden, mit ihren Brüchen und Beschädigungen.

Es ist die eindrücklichste Szene des Abends, der zwar mit der Musik von Miles Perkin, grotesken Einlagen und zertrümmerten Stühlen danach noch mehr auffährt, aber nicht an Intensität gewinnt. So manche Überzeichnung steht auch in einem mindestens eigenwilligen Spannungsverhältnis zur Vorlage. Nach der Pause ist der Abend in weiten Teilen nochmals reduzierter - von der Bühne, vom Gestus, von der Sprache. Langsam schiebt sich der Bühnennebel in den Raum, breitet sich über den Boden aus, eine langsame Vereisung. Die Nächte an den Rändern der Städte, sie sind nicht nur öde und endlos, sie sind auch sehr kalt - wie die Verhältnisse selbst.

»Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab - wir sind sehr einsam«, heißt es bei Georg Büchner, aber es könnte auch diesen Abend beschreiben: die Beziehungslosigkeit der vereinzelten Einzelnen, die wie Trabanten auf ihren je eigenen Umlaufbahnen kreisen.

Nächste Vorstellungen: 3., 22., 29. Dezember.

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