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Rasen ohne Sinn und Verstand

Ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist schon lange mehr als überfällig, meint Gerd Rosenkranz

  • Gerd Rosenkranz
  • Lesedauer: 3 Min.

Andreas Scheuer erblickte 1974 das Licht der Welt - im selben Jahr also, als der ADAC mit der »Bild« seine Kampagne »Freie Fahrt für freie Bürger!« startete. Die richtete sich damals gegen einen nach der ersten Ölpreiskrise vom Bundesverkehrsminister Lauritz Lauritzen (SPD) verfügten Tempo-100-Großversuch auf Autobahnen. Mit etwas gutem Willen kann man dem Scheuer und seiner Reaktion auf die aktuelle Tempolimitdiskussion also seine frühkindliche Prägung zugutehalten - und trotzdem daran verzweifeln.

Denn außer dem zeitlosen Reizreaktionsschema, nach dem diese Debatte alle paar Jahre eine Neuauflage erlebt, ist ja nichts mehr, wie es war. 1974 ging es um die vermeintlich drohende Erpressbarkeit Westdeutschlands durch die Ölscheichs, und um den ungeheuerlichen Blutzoll auf deutschen Straßen, dem jedes Jahr eine mittlere Kleinstadt zum Opfer fiel. Die Rettung des Erdklimas als Motiv für ein Tempolimit kam später hinzu. Allerdings: Das Ergebnis war stets dasselbe. Die Bleifußfraktion obsiegte, obwohl das mulmige Gefühl in der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere mit Blick auf den komplett geschwindigkeitsbegrenzten Rest der Welt, allmählich wuchs.

So soll es, geht es nach dem Bundesverkehrsminister, dem ADAC und der Lautsprecherfraktion des Boulevards, auch diesmal ausgehen. Wahrscheinlich ist es hoffnungslos, sich bei Scheuer über Stilfragen zu echauffieren. Erst die führenden Mobilitätsexperten im Lande um klimapolitische Beratung zu bitten, um ihnen dann aufgrund eines von interessierter Seite durchgesteckten Diskussionspapiers »jeden Menschenverstand« abzusprechen und die Sitzungstermine zu stornieren - nun gut, das ist nicht schön. Aber geschenkt, die Aufregung um einen Minister ohne Manieren lenkt ab vom Kern der Debatte.

Zunächst ist im Windschatten des Tempolimitaufregers fast untergegangen, dass die Arbeitsgruppe 1 der »Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität« ein Bündel von 19 Instrumenten aufgelistet hat, die bei vollständiger Umsetzung in Summe pro Jahr knapp 55 Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen sollen. Der Auftrag nach den Vorgaben des Klimaschutzplans der Bundesregierung an die Plattformmitglieder lautet: Reduzierung der Verkehrsemissionen von derzeit etwa 170 Millionen Tonnen auf 98 Millionen Tonnen bis 2030. Die Wahl besteht also nicht darin, das eine oder das andere Instrument auszuprobieren. Es geht eben nicht mehr um ein Entweder-oder. Praktisch alle Ideen müssten umgesetzt werden, und selbst dann bleibt eine erfolgreiche Punktlandung unwahrscheinlich. Nähme Scheuer das Anliegen der Bundesregierung ernst, würde er nicht protestieren, sondern müsste von seinem Gremium eher mehr fordern als weniger. Der Klimaschutz gebietet also ein Tempolimit, weil nur ein Strauß von Maßnahmen zum Erreichen des Klimaziels führt, weil es sofort wirkt und von allen diskutierten Maßnahmen am einfachsten umzusetzen ist. Dennoch wäre es falsch und gefährlich, die Tempolimitdebatte wegen des aktuell klimapolitischen Auslösers nur noch unter diesem Gesichtspunkt zu führen. Es geht nicht darum, eine neue Sau durchs Dorf zu jagen.

Zwar ist das Gemetzel auf deutschen Straßen seit 1970 (damals gab es mehr als 21 000 Verkehrstote) eingedämmt worden (2017 waren es noch 3180 Tote). Doch gleichzeitig ist zu hohe Geschwindigkeit mit mehr als 40 Prozent Anteil an den Unfällen mit Toten und Schwerverletzten immer noch die häufigste Ursache. Die deutsche Versicherungswirtschaft weist darauf hin, dass es 2017 insgesamt zu 277 tödlichen Unfällen auf Autobahnstrecken ohne Tempolimit kam, etwa 80 Todesfälle waren auf zu hohes Tempo zurückzuführen. Sind die Betroffenen und ihre Hinterbliebenen unerheblich? Auch 2019 werden in Deutschland Dutzende Menschen sterben, weil gerast wird und wie in keinem zweiten Land der Welt gerast werden darf.

Die unbegrenzte Raserei hatte immer schon etwas von einer mühsam als Freiheitsliebe getarnten kollektiven Psychose. Sie wird jetzt auch anachronistisch. Denn die künftigen, elektrisch getriebenen High-Tech-Pkw werden, wenn sie das Klima effizient entlasten sollen, vor allem eins sein: leicht. Für Tempo 200 plus sind sie nicht geeignet. Nicht überzeugt? Ok, dann müssen wir die Tempolimitdiskussion bis zum bitteren Ende führen. Das ist erreicht, wenn wir uns in selbstfahrende Autos setzen. Die haben kein Gaspedal. Und keinen Fahrer. Wie schnell sie fahren, entscheidet der Bordcomputer.

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