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»So etwas wie den Brexit gab es noch nie«

Der Ökonom Andrew Watt hält einen Deal in letzter Minute für am wahrscheinlichsten

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 8 Min.

Sie haben vor Kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.

Richtig.

Andrew Watt

Andrew Watt ist Referatsleiter Europäische Wirtschaftspolitik am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Mit dem gebürtigen Briten, der wegen des Brexit die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, sprach Simon Poelchau.

Wie kam es zu dem Entschluss?

Ich wohne und arbeite bereits seit 1987 auf dem Kontinent. Dabei habe ich nicht nur in Deutschland gelebt, sondern auch 12 Jahre in Belgien. Jahrelang habe ich es nicht für nötig befunden, die deutsche oder die belgische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ich konnte ja mit meinem britischen Pass alles machen.

Hat der Brexit zum Umdenken geführt?

Genau. Die Unsicherheit ist groß, was nach dem 29. März kommen wird. Deswegen hatte ich mich entschlossen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, solange Großbritannien noch EU-Mitglied ist. So konnte ich die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, ohne die britische abzulegen.

Kam der Entschluss, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, gleich nach dem Brexit-Votum?

Ich habe mich erst im letzten Frühjahr dazu durchgerungen. Ich wollte noch etwas abwarten und sehen, wie sich die Lage entwickelt. Aber wegen der schwierig verlaufenden Verhandlungen und der großen Unsicherheit, was kommen wird, habe ich mich zu demselben Schritt entschieden, den viele meiner Landsleute in Kontinentaleuropa derzeit auch machen. Die Anzahl der Einbürgerungen von Briten in Deutschland war 2017 mehr als zehn Mal höher als 2015, und - da der Prozess auch etwas dauert - sind die Zahlen 2018 bestimmt nochmals deutlich angestiegen.

Was, meinen Sie, macht der Brexit mit Europa?

Die Lehre aus dem Brexit ist, dass man die EU nicht als selbstverständlich ansehen darf. Mit ihr sind Rechte und Vorteile verbunden, die man schnell wieder verlieren kann. Daher meine zweite persönliche Entscheidung: mich europapolitisch zu engagieren. Ich beteilige mich unter anderem an der Bürgerinitiative »Pulse of Europe«.

Glauben Sie nicht, dass Großbritannien noch mal die Kurve kriegt und den Brexit doch noch absagt?

Noch ist alles möglich. Es wurden in zwei Jahren harter Verhandlungen zwar Fortschritte gemacht, trotzdem hat sich nichts an der grundlegenden Situation geändert. Es ist immer noch möglich, dass es zu einem ungeordneten Brexit oder einer Einigung zwischen London und Brüssel kommt, aber auch, dass Großbritannien das Austrittsgesuchen nach Artikel 50 des EU-Vertrages wieder zurücknimmt und doch in der EU bleibt. Letzteres würde ich gerade eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent geben.

Nun fordert aber auch Labour-Chef Jeremy Corbyn ein zweites Referendum.

Ja. Es hat gedauert, aber jetzt ist das Bekenntnis dazu - sehr beliebt in der Mitgliedschaft - auch von der Parteiführung da. Es kam nicht zufällig kurz nach dem publikumswirksamen Parteiaustritt einiger Labourabgeordneten. Allerdings: Eine positive Mehrheit im Parlament gibt es wohl auch für ein zweites Referendum nicht.

Was ist am wahrscheinlichsten?

Eigentlich will nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten einen harten Brexit. Das Problem ist, dass dies sozusagen eine Default-Option ist, wie man es in der Computersprache ausdrückt. Sie kommt automatisch zustande, wenn es keine positive Entscheidung gibt, sie zu verhindern. Quasi als Unfall, wenn die Blockade im Unterhaus nicht aufgelöst wird. Solche Unfälle kennen wir aus der Geschichte. Es wollte keiner den Ersten Weltkrieg lostreten. Trotzdem kam es zu dieser Jahrhunderttragödie.

Wie könnte die Blockade aufgelöst werden?

Premierministerin Theresa May bräuchte die Unterstützung zumindest von Teilen der Labour-Partei. Sie müsste deswegen ein Stück weit auf die Opposition zugehen. Das ist schwierig, aber machbar - wenn sie es will. Ein Deal, mit einer Verlängerung über den 29. März hinaus, ist also wohl wahrscheinlicher als kein Deal oder ein Abbruch des Brexit.

Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte bisher vorgeschlagen, dass Großbritannien nach dem Brexit in einer Zollunion mit der Europäischen Union bleiben könne. May hat diese Option aber bisher ausgeschlagen.

Sie hat das immer abgelehnt, weil dann Großbritannien nicht mehr in der Lage wäre, eigene Handelsabkommen zu schließen. Und genau das wollen viele Konservative mit einem Austritt aus der EU erreichen. Deswegen hat May Angst, dass sie die Kontrolle über ihre eigene Partei verlieren würde, wenn sie Labour da entgegenkommen würde.

Ihr ist also der Zusammenhalt der Tories wichtiger als ein geordneter Brexit?

Kurze Antwort: Ja.

Was halten Sie als Ökonom vom Labour-Vorschlag einer Zollunion?

Es würde auf jeden Fall die ökonomischen Auswirkungen des Brexit deutlich reduzieren. Doch es geht nicht allein um die Frage der Zollunion. Die Türkei zum Beispiel ist auch Mitglied einer Zollunion mit der EU.

Was meinen Sie damit?

Es ist wichtig, dass es über den Güterhandel hinaus zu weitergehenden Übereinkünften zwischen Großbritannien und der EU bei Themen wie Handel mit Dienstleistungen und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer kommt. Diese Dinge stehen derzeit nicht zur Debatte, weil es noch um das Austrittsabkommen im engeren Sinne geht. Dabei ist das Zustandekommen eines Austrittsabkommens die notwendige Bedingung dafür, dass es überhaupt zu Verhandlungen über diese wichtigen Themen kommt, die bis jetzt nur in einer vagen »Politischen Erklärung« umrissen sind. Wenn das Land ohne ein Abkommen aus der EU ausscheidet, wird es zu einem großen Vertrauensverlust und einer großen Krise in der Beziehung zwischen London und den 27 EU-Mitgliedern kommen: und dann sind Verhandlungen - die es so oder so wird geben müssen - erst recht sehr schwierig.

Wie groß ist der ökonomische Schaden, den der Brexit anrichtet?

Wenn es bis Ende März noch zu einer Einigung und zu einem geordneten Austritt kommt, dann könnte es in Großbritannien vielleicht sogar wieder leicht bergauf gehen. Denn in der Wirtschaft läuft es jetzt schon recht schlecht. Die Investitionen gehen bereits seit einem Jahr zurück, und immer mehr Firmen verlagern ihre Sitze und Produktion aus Großbritannien in den Rest der EU. Ein Abkommen würde da die Panik erst mal reduzieren.

Und wenn es zu keinem Abkommen kommt?

Das wird keiner quantitativ abschätzen können. Da werden wir uns auf eine Terra incognita, auf unbekanntes Terrain begeben. So etwas wie den Brexit hat es noch nie gegeben.

Was wird kurzfristig passieren?

Man wird sofort erhebliche Probleme an den Grenzen beim Güterverkehr bekommen. Auch beim Flugverkehr. Das Pfund, das bereits 20 Prozent nachgegeben hat, wird weiter abwerten. Großbritannien würde vermutlich erst einmal eine starke Rezession erleben. Die könnte dann auch auf die deutsche und europäische Wirtschaft ausstrahlen. Großbritannien ist zum Beispiel auch ein wichtiger Markt für die deutsche Automobilindustrie, was schon durch die Abwertung des Pfundes zu Problemen geführt hat.

Was könnte Großbritannien dagegen machen?

Die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten wären stark begrenzt. Besonders die Bank of England hätte erhebliche Schwierigkeiten, als Notenbank auf die kurzfristigen Schocks zu reagieren.

Wieso?

Wegen der Rezession müsste sie eigentlich die Zinsen senken und Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpen. Die Wiedereinführung von Zöllen und eine Abwertung des Pfundes würde aber die Inflation steigen lassen. Deswegen müsste die Bank of England eigentlich die Zinsen anheben. Insofern wird sie sich im Falle eines harten Brexit in einem massiven Dilemma befinden.

Könnte es auch zu ernsthaften Turbulenzen auf den Finanzmärkten kommen?

Auch das ist nicht auszuschließen. Es ist so gut wie sicher, dass dies Großbritannien kurzfristig treffen wird. London ist noch der bedeutendste Banken- und Finanzplatz für Europa, so dass ein harter Brexit natürlich Auswirkungen auf das restliche Europa haben würde. Deswegen wurden auch schon auf der technischen Ebene zwischen der EU und Großbritannien Vorkehrungen getroffen, damit das Schlimmste verhindert wird. Inwieweit das gelingt, kann man nur spekulieren.

Wie groß wären die Auswirkungen?

Der Internationale Währungsfonds zum Beispiel geht davon, dass die Auswirkungen eines ungeordneten Ausscheidens auf die EU zwar eher überschaubar sein werden, aber die Konjunktur ist ohnehin etwas angeschlagen. Und für einzelne Länder werden die Folgen durchaus spürbar sein. Besonders Irland, das im Güterhandel enge Beziehungen mit Nordirland und Großbritannien hat, und die Niederlande, die in der Finanzbranche stark mit London verflochten sind, werden die Folgen spüren. Gleichzeitig werden manche EU-Mitglieder - neben Exporteinbußen - auch ein Stück weit vom Brexit profitieren.

So hofft man in Hessen auf 8000 neue Jobs in der Finanzbranche, die Banken schaffen sollen, die aufgrund des Brexit von London nach Frankfurt am Main ziehen.

Es geht dabei nicht nur um die Finanzbranche. Die Uni-Klinik in Düsseldorf versucht schon, polnische Pflegekräfte, die Angst vor dem Brexit haben, aus Großbritannien abzuwerben. Und Ford lässt seine Motoren in Großbritannien produzieren, verbaut sie aber in Deutschland, um die fertigen Autos schließlich wieder nach Großbritannien zu exportieren. Wenn wieder Zölle eingeführt werden, funktioniert dieses Geschäftsmodell nicht mehr. Ford könnte sich dann entscheiden, die Autos ganz in Deutschland zu produzieren, was ein Gewinn für die hiesigen Produktionsstandorte wäre.

Ford könnte sich aber natürlich auch entscheiden, die Autos ganz in Großbritannien zu produzieren.

Zumindest für den britischen Mark, natürlich. Das ist auch das Problem. Es ist fast unmöglich, die Konsequenzen des Brexit genau zu prognostizieren, weil das Thema so komplex ist. Es ist, als ob man einen Satz Spielkarten in die Luft wirft und schaut, wie sie sich am Ende sortieren.

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