Rätselhafte Schlafkrankheit

Eine offene Blut-Hirn-Schranke ermöglicht Viren, Antikörpern und Parasiten Attacken auf Nervenzellen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Viele Jahre erschien die Europäische Schlafkrankheit nur als eine Episode in der Geschichte der Medizin. Die spezielle Art der Gehirnentzündung (auch Encephalitis lethargica genannt), die Lethargie, unkontrollierte Schlafanfälle und eine Parkinson-ähnliche Krankheit auslöste, trat vor allem zwischen 1915 und 1927 auf. Ein Drittel der damals Betroffenen starb. Allein für Deutschland wurden von 1917 bis 1927 bis zu eine Million Kranke geschätzt. Danach gab es bis in die 40er Jahre nur noch Einzelfälle. Damals wurde zunächst vermutet, dass es eine Verbindung zur Spanischen Grippe gab, die zwischen 1918 und 1920 weltweit bis zu 50 Millionen Todesopfer forderte.

Ein Wissenschaftlerteam am Pathologie-Institut der US-Streitkräfte in Washington untersuchte jedoch 2001 einige archivierte Gewebeproben, die von Menschen stammten, die entweder akut an Encephalitis lethargica erkrankt waren oder nach einer Gehirnentzündung Parkinson entwickelt hatten. In keiner dieser Proben waren Überreste der Influenza-RNA, also der Erbinformation der Spanischen Grippe, nachweisbar.

Als Auslöser der Europäischen Schlafkrankheit wurden zwischenzeitlich das Herpes-Virus oder Scharlach-Erreger gehandelt. Neuerdings wird vermutet, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Das Krankheitsbild unter anderem mit exzessiver Tagesschläfrigkeit zeigte sich gehäuft in den Jahren 2009 und 2010. Damals kam es zu einer Epidemie von Narkolepsie-Erkrankungen, die nach massenhaften Impfungen gegen Schweinegrippe (Influenzavirus A/H1N1) auftraten. Vor allem die skandinavischen Behörden hatten aus Furcht vor einer vielleicht schweren Grippe-Pandemie alle Kinder und Jugendlichen geimpft. Die Fälle von Narkolepsie, bei denen das Schlaf-Wach-Zentrum des Gehirns gestört ist, tauchten ab August 2010 zunächst vereinzelt in Schweden, Finnland, Norwegen und Irland auf. Insgesamt waren in einer Datenbank der Europäischen Arzneimittelagentur bis Januar 2015 etwa 1300 Fälle registriert, darunter einige in Deutschland. Ermittelt wurde ein Zusammenhang mit dem Impfstoff Pandemrix. Mit dem Konkurrenz-Vakzin Focetria geschützte Personen waren nicht von Narkolepsie betroffen.

2015 untermauerte eine Gruppe von Wissenschaftlern der Stanford University School of Medicine in Palo Alto den Verdacht, dass die von Pandemrix induzierten Antikörper nicht nur Bestandteile des Grippevirus erkannten, sondern versehentlich auch Bestandteile des menschlichen Organismus angriffen, in diesem Fall Rezeptoren für das Hormon Hypocretin. Dieses wird in Nervenzellen gebildet, die zu dem genannten Schlaf-Wach-Zentrum im Gehirn gehören. In der Aminosäurensequenz des Rezeptors existiert nun ein Bereich, der auch im Influenza-Virus zu finden ist. Die Forscher konnten Antikörper gegen das Virus bei 17 von 20 finnischen Patienten nachweisen, die nach der Pandemrix-Impfung an einer Narkolepsie erkrankt waren. Bei den mit Focetria Geimpften in einer Vergleichsgruppe wurden diese Antikörper nicht gefunden. Damit es zu einer Narkolepsie kommt, muss allerdings die schützende Blut-Hirn-Schranke offen sein. Das kann durch eine andere Infektion geschehen, zeitlich auch lange nach der Impfung, da die Antikörper lebenslang im Blut bleiben.

Neben Pandemrix könnte auch Influenza selbst eine Narkolepsie auslösen, das »schuldige« Nukleopeptid ist ja auch Bestandteil des Influenzavirus selbst, nicht nur des Impfstoffes. Das führt zurück zur Schlafkrankheit-Epidemie nach der Spanischen Grippe, weist aber auch nach China. Dort kam es in den Jahren 1996 bis 2008 nach Grippewellen ebenfalls zu gehäuften Narkolepsie-Diagnosen. Identifiziert wurde als Voraussetzung für die Erkrankung zusätzlich ein genetischer Faktor, der mit einem Leukozytenantigen verbunden ist.

Wesentlich mehr Fälle als bei der Narkolepsie und der Europäischen Schlafkrankheit werden für die infektiöse Schlafkrankheit registriert, auch Afrikanische Trypanosomiasis genannt. In den Subsahara-Staaten sind das laut Weltgesundheitsorganisation jährlich bis zu 70 000 Fälle. Auch ist die durch die Tsetse-Fliege übertragene Infektion einfacher zu verstehen: Ihre Erreger sind einzellige Parasiten (Trypanosoma brucei), die über Blut- und Lymphgefäße innere Organe befallen. Die Einzeller gelangen im Krankheitsverlauf ins Gehirn und lösen Verwirrtheit, Schlafstörungen sowie Krampfanfälle aus. Im Endstadium fällt der Patient in einen schläfrigen Dämmerzustand, von dem die Schlafkrankheit ihren Namen hat.

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